Stand: 11.05.2013 23:20 Uhr

"Wir dürfen nicht bequem werden"

v.l.n.r.: Sietse Bakker, Jon Ola Sand, Martin Österdahl © Sander Hesterman (EBU) Foto: Sander Hesterman (EBU)
Sietse Bakker, Jon Ola Sand, Martin Österdahl (v.l.n.r.) auf einer Pressekonferenz in Malmö.

Sietse Bakker, 1984 in Amsterdam geboren, ist innerhalb der European Broadcasting Union (EBU) seit dem 1. Januar 2011 Event Supervisor und kümmert sich unter seinem Chef Jon Ola Sand um den Eurovision Song Contest. Als kaum Volljähriger baute er die erste Internetplattform für den ESC auf, der heute immer noch tätige Dienst esctoday.com. Er wurde mehrmals in seiner niederländischen Heimat als Unternehmer ausgezeichnet. Sein Buch "How To Live Wow!?" zählt als Ratgeber zur Gattung des Sachbuchs, in der die Autoren erzählen, was das Rezept ihres (frühen) Erfolgs war. Eurovision.de hat ihn während der ESC-Probentage in der Malmö Mässan Arena getroffen

Das schwedische Fernsehen SVT und die EBU kamen überein, den ESC finanziell etwas schmaler zu fahren. Aber hier in Malmö sieht man von der Beschränkung wenig. Worin erkennen Sie die Neuerungen?

Sietse Bakker: Wir waren uns nach den letzten ESCs bewusst, dass wir etwas gegen die ausufernden Kosten machen müssen. Sonst könnten sich kleinere Länder nicht leisten, einen ESC auszurichten. Wir möchten nicht in die Situation geraten, dass ein Gewinnerland erklärt, nein, wir schaffen es doch nicht. Hier in Malmö sieht man an vielen Details, wie sehr wir auf die Kosten geachtet haben.

Nennen Sie uns bitte einige dieser Details?

Margaret Berger aus Norwegen bei den Proben für den ESC in Malmö. © EBU Foto: Sander Hesterman
Die norwegische Kandidatin Margaret Berger bei ihrer ersten Probe in Malmö. Die Bühne ist in atmosphärische Stimmung getaucht: Scheinwerfer, statt riesige LED-Wände.

Bakker: Nun, die Bühne ist kleiner, wir haben auf die Hochrüstung mit teuren LED-Wänden verzichtet oder auf die automatische Bereitstellung eines Busfuhrparks für die Delegationen. Auch im Pressezentrum ist einiges anders. Nicht nur, dass es die Halle im Messezentrum schon gab, auch dass allein die Stühle nicht mehr pro Stück 3.000 Euro kosten, sondern viel günstiger gekauft wurden. Überhaupt ist der ESC in Malmö knapper vom Budget her gehalten, weil man nicht mehr 130 Trucks wie im fernen Baku braucht, um alles Material an Ort und Stelle zu bringen.

Wie ist der Kostenschlüssel für einen ESC heutzutage?

Bakker: Aus den Beiträgen der einzelnen teilnehmenden ESC-Ländern ergibt sich, dass seitens der EBU sechs Millionen Schweizer Franken (rund 4,8 Millionen Euro, Anmerkung der Redaktion) zu den Kosten des Events beigetragen werden. Die Länder bekommen auf diese Weise sehr kostengünstiges Fernsehen. Die andere Hälfte kommt vom Veranstalter - und der Rest ergibt sich aus den Geldern von Sponsoren, durch Ticketverkäufe und durch das Merchandising und die Lizenzen.

Das ist nicht höher als etwa beim ESC vor zehn Jahren.

Bakker: Viele Teile der Produktion sind inzwischen zu niedrigeren Preisen zu haben. Man könnte sagen: Man bekommt in heutigen Tagen mehr fürs Geld.

Sprechen wir über die Modernisierung des ESC überhaupt. Das Orchester ist abgeschafft, ebenso die Pflicht zum Gesang in der Landessprache und dann die Wiedereinführung der Juries. Das bleibt vorläufig so?

Bakker: Ja, in der Tat. Und was die 50/50-Balance zwischen Televoting und Juries anbetrifft, würde ich sagen, das ließe sich ändern, aber warum sollten wir das anstreben? 50/50 erschließt sich allen auf Anhieb, das hat sich bewährt.

Möglich ist, dass es auch irgendwann keine Pflicht zum Livegesang mehr gibt.

Bakker: Nun, beim Melodifestival, der schwedischen Vorentscheidung, dürfen die Backing Vocals, die Chöre zum Beispiel, vom Band kommen. Beim Junior Eurovision Song Contest machen wir das auch so, weil dann die einzelnen Sänger umso stärker im Fokus stehen können.

Im Zwang, auch live ein Lied vortragen zu können, liegt womöglich der eigentliche Reiz der Performances, oder?

Bakker: Sicher, ohne die Live-Performance würde das emotionale Moment fehlen. Aber ich bin dagegen, irgendetwas für tabu zu erklären. Man muss flexibel bleiben. Wer hätte noch in früheren Jahren gedacht, dass es auch ohne Orchester gehen könnte?

Aber war es denn richtig, auf die Auslosung der Startnummern zu verzichten und es der Regie zu überlassen, wer an welcher Stelle der Teilnehmer auftritt?

Bakker: Wir wollten es einfach fairer haben. Es ist nicht gut, wenn drei Balladen hintereinander kommen – das ist vor allem nicht gut für die dritte von diesen langsamen Liedern. Und wir wollten die Mischung aus allen Stilen, aus Ost und West. Es wäre nicht gut, wenn ein Lied, das vielleicht am Ende den letzten Platz belegt, als erstes auf die Bühne geht. Die Leute würden umschalten – und das können wir den anderen gegenüber nicht verantworten.

Und dass nun auch die Bekanntgabe der Wertungen geplant wird – Land für Land. Ist das nicht allmählich ein weiterer Aspekt, den ESC von den Zufällen zu befreien?

Bakker: Wir machen eine Show - und eine wie der ESC lebt von der Spannung vor allem. Der mathematische Algorithmus ist so justiert, dass die Frage, wer am Ende gewinnt, möglichst lange offen bleibt. Ich erinnere Jahre wie 1991 oder 1998, da war die Abstimmung bis zu den letzten ein, zwei Wertungen offen. Es war ein unglaublicher Thrill! Voriges Jahr Loreen war als Siegerin schon nach wenigen Wertungen klar. Wir wollen es so steuern, dass es, wenn möglich, nicht fade wird.

Wissen Sie als Kopf des ESC schon Sekunden nach dem Ende des Televotings, wer gewonnen hat?

Bakker: Nein, so wird es vermutet, aber so ist es nicht. Nein, wir wissen es ein wenig eher als das, was das Publikum sieht – aber die Satellitentechnik ist so, dass jeweils nur sechs bis acht Länder auf einmal ihre Wertungen durchgeben können. Es wäre auch nicht besonders sexy, täten wir nur so, als wüssten wir nichts. Nein, wir wissen das Resultat, also wer gewonnen hat, auch nicht viel eher als alle anderen.

Wann wird festgelegt, welches Land an welcher Stelle seine Wertungen präsentieren kann?

Bakker: Nach den Jurywertungen in der Nacht vor dem großen Finale. Die Juries sehen ja die zweite Generalprobe und auf dieser Basis werten sie. Wir bekommen die Ergebnisse und legen dann fest, wer wann drankommt, um, wie gesagt, die Spannung am besten bis zur letzten Wertung zu halten.

2015 wird der 60. ESC veranstaltet, die EBU wird ein besonderes Festival ausrichten. Könnte man nach diesen Jahrzehnten sagen: Der ESC ist "unkaputtbar"?

Bakker: Nein, das würde ich selbst dann nicht sagen, wenn ich es manchmal dächte. Wir als Verantwortliche dürfen nicht faul und bequem werden. Wir müssen immer darauf achten, ob das, was wir für eine gute Show halten, auch noch zeitgenössisch ist. Ich erzähle immer gern die Geschichte von einem chinesischen Kaiser, der eine kostbare Vase besonders liebte. Nichts war dem Kaiser wichtiger oder bewahrenswerter. Alles wurde getan, damit dieses Stück nicht zerstört wird. Am Ende hat der Monarch die Vase so stark umarmt, so beschützt, dass sie in seinen Armen zerbrach. Unkaputtbar ist nichts!

Wie stark werden Sie sich bemühen, die dieses Jahr fehlenden Länder wieder zurückzugewinnen - die Türkei, Bosnien-Herzegowina, Polen und Portugal etwa?

Bakker: Wir führen natürlich sehr viele Gespräche und hoffen, dass wir die Sorgen dieser Länder um diese Show und deren eigenen Anteil, beheben können. Wir sind zuversichtlich und müssen es auch sein.

Was bedeutet Ihnen der ESC persönlich?

Sietse Bakker, Supervisior der EBU für den Eurovision Song Contest © Sander Hesterman (EBU) Foto: Sander Hesterman (EBU)
Für Sietse Bakker ist der Eurovision Song Contest wie ein großes Familientreffen.

Bakker: Ich bin geboren als Niederländer - und jetzt Europäer. Der ESC ist ein Lifestyle, und ich liebe ihn. Und ein bisschen auch meine Familie. Jetzt in Malmö ist es so, dass ich so viele der akkreditierten Journalisten und Fans wiedersehe. Dann denke ich: Das ist wie ein großes Familientreffen, bei dem man, so fern ein Onkel oder eine Tante einem sein können, niemanden missen möchte. Wenn man so will: Das ist mein Europa.

Die Fragen stellte Jan Feddersen.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 18.05.2013 | 21:00 Uhr