Stand: 23.07.2009 11:16 Uhr

Jury oder nicht Jury - gute Frage!

Groß war die Begeisterung innerhalb der ESC-Fangemeinde, als die EBU 1997 zum ersten Mal gestattete, dass die Teilnehmerländer am größten Musikwettbewerb der Welt ihre Punkte direkt durch das heimische Fernsehpublikum vergeben ließen. Deutschland, Österreich, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich machten als erste von dieser Möglichkeit Gebrauch, und Deutschland war es auch, das die Regeländerung mit auf den Weg gebracht hatte: Auf diese Weise sollte das in vielen Ländern drastisch zurückgegangene Zuschauerinteresse am ESC wieder geweckt werden.

Televoting ist seit 2004 Pflicht

Die Jury beim deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 1969 © NDR
Die Jury beim deutschen Vorentscheid zum Eurovision Song Contest 1969

Die Rechnung ging auf, denn schließlich ist Musik etwas, zu dem jeder eine eigene Meinung hat - und wenn man diese während der Veranstaltung telefonisch äußern kann, birgt dies einen ganz anderen Reiz, als die Punktevergabe durch anonyme Jurys zu verfolgen. Im Jahr darauf waren es schon 21 Länder, die den Zuschauern eine Telefonabstimmung ermöglichten. Seit 2004 ist das Televoting in allen Ländern verpflichtend. Die Jury wurde dennoch niemals völlig abgeschafft: Für den Fall einer technischen Panne wird die Punktevergabe in jedem Land durch eine Backup-Jury gewährleistet.

Alter Traum Publikumswertung

Schon in der Geburtsstunde des ESC 1956 träumten die Gründer des Contests davon, das Publikum in die Abstimmung über Europas schönstes Lied einzubeziehen. Doch die technischen Möglichkeiten für das Televoting waren damals noch nicht gegeben, und die geplante Abstimmung per Postkarte war zu umständlich, um in die Praxis umgesetzt zu werden. So wurde in den ersten viereinhalb Jahrzehnten des Wettbewerbs mit Jurys vorlieb genommen, auch wenn immer wieder Überlegungen zu einer Publikumswertung angestellt wurden, denn die Entscheidungen der Juroren boten immer wieder Anlass zur Kritik.

 

Siegerin des ersten Grand Prix Eurovision, Lys Assia. © Cariblue music & publishing GbR, Musikproduktion und Verlag Foto: Michael Dierks
Lys Assia

Schon im ersten Jahr des ESC gab es Ärger: Da die luxemburgische Fernsehanstalt CLT auf die Entsendung eigener Jurymitglieder verzichtet hatte und dafür zwei Juroren aus der Schweiz eingesprungen waren, haftete dem Schweizer Heimsieg von Lys Assia der Ruch von Parteilichkeit und Manipulation an - ein Vorwurf, dem man im Folgejahr durch ein transparenteres Abstimmungsverfahren begegnete. Doch auch wenn die Punktevergabe seit 1957 öffentlich erfolgte, änderte dies nichts an der Tatsache, dass über die Zusammensetzung der Jurys meist nur wenig bekannt war. Entsprechend hartnäckig hielten sich Gerüchte über gekaufte Juroren und politisch beeinflusste Wertungen.

Ausgefeilte Abstimmungsstrategien

Die EBU versuchte das Problem durch Vorgaben zur Zusammensetzung der Jurys in den Griff zu bekommen. Von der Altersstruktur bis zum Frauenanteil wurde genau vorgeschrieben, wer über die Lieder der anderen Nationen befinden durfte. Doch auch dies änderte nichts an der öffentlichen Wahrnehmung: Die Jurywertung blieb für die meisten Menschen undurchsichtig. Entsprechend begrüßt wurde die Einführung des Televotings - bis das Schlagwort der Nachbarschaftswertung die Runde machte. Denn die Publikumswertung ist von Natur aus nicht objektiver als die vermeintlich ungerechte Wertung einzelner Jurymitglieder - im Gegenteil.

Telefontastatur in Nahaufnahme © Wired World Wide
Televoting ist demokratischer - aber auch objektiver?

Es ist wissenschaftlich nachgewiesen, dass die Zuschauer in den einzelnen Ländern bei der Bewertung der teilnehmenden Beiträge Maßstäbe anlegen, die mit der Musik an sich nur wenig zu tun haben. Das ist auch ganz normal. Denn wenn man zwischen bis zu 24 Liedern entscheiden muss, die einem völlig unbekannt sind, wird die Aufmerksamkeit durch äußere Einflussfaktoren wie die Bühnenshow oder ein größeres Interesse für Länder mit gleichem kulturellen Hintergrund gelenkt. Ebenfalls nachweisbar ist, dass sich die Startreihenfolge bei Publikumsentscheidungen deutlich stärker auswirkt als bei Jurywertungen.

Eine Ideallösung gibt es nicht

Die vermeintlich demokratischere Zuschauerabstimmung liefert also keine objektiveren Entscheidungen als eine Jury. Natürlich bleibt auch die Jury von musikfremden Faktoren nicht völlig unbeeinflusst. Sie kann sie aber besser ausblenden, weil sie die Bewertung zum Auftrag hat und sich daher stärker auf die Erfüllung ihrer Aufgabe konzentriert. Sie kann die Entscheidung der Zuschauer nicht ersetzen, aber sie kann sie durch ihre erhöhte Aufmerksamkeit ergänzen. Denn Juroren werten nicht besser oder schlechter als das Publikum. Sie werten im Idealfall anders, und das macht die Wertung wieder ein wenig unvorhersehbarer und damit spannender!

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 29.05.2010 | 21:00 Uhr