Stand: 23.09.2011 16:00 Uhr

Lettland: Das Land, das singt

Wie viele kleinere Völker Europas mussten die Letten ihre eigene Kultur über Jahrhunderte gegen die Einflüsse mächtiger Nachbarn behaupten. Zunächst gegen den Deutschritterorden, der das Baltikum im 12. und 13. Jahrhundert erobern und christianisieren sollte. Von ihrem ursprünglichen Naturglauben ließen die Letten allerdings nicht so einfach ab: Nach der Zwangstaufe wuschen sie sich im Wasser des heiligen Flusses Daugava wieder rein.

Dainas und deutsche Eliten

Ihre enge Bindung zu Natur und Kosmos fassten die Letten in vierzeilige, reimlose Verse, die Dainas. Die Wurzeln dieser Volksdichtung reichen - wie auch die Ursprünge der lettischen Sprache - bis ins alte Indien. Die zum Teil über 1000-jährigen Texte und Melodien, die vorwiegend von Frauen verfasst wurden, überlebten allein durch mündliche Überlieferung, denn bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gab es weder Literatur noch Presse in lettischer Sprache. Bildung und sozialer Aufstieg waren für Letten nur durch Anpassung an die deutschsprachigen Eliten möglich. Einige dieser "eingedeutschten" Letten waren es schließlich, die sich für die uralte Volksdichtung der Dainas zu interessieren begannen und sie schriftlich festhielten.

Singendes Lettland

In Lettland gibt es das geflügelte Wort "Auf jeden Letten kommt ein Lied". Daran ist viel Wahres: Rund 1,2 Millionen Dainas sind schriftlich fixiert - und rund 1,3 Millionen lettischstämmigen Einwohner hat das Land.

Identitätsstiftende Volkslieder

Der Volkskundler Krišjanis Barons sammelte zu Lebzeiten 217.996 Dainas und schuf damit die Basis für ein lettisches Nationalbewusstsein, denn die uralten Verse zeugten von einer eigenständigen lettischen Kultur, die von der herrschenden deutschen Klasse stets bestritten worden war. Damit war der erste Schritt zu einer lettischen National- und Unabhängigkeitsbewegung getan. Die identitätsstiftende Bedeutung der lettischen Volkslieder wurde durch die seit 1873 alle fünf Jahre stattfindenden Lieder- bzw. Sängerfeste verstärkt, die (gemeinsam mit den Sängerfesten in Estland und Litauen) zum immateriellen Kulturerbe der Menschheit zählen. 1918 wurde Lettland unabhängig, nach dem Zweiten Weltkrieg aber der Sowjetunion einverleibt.

Die "singende Revolution"

Die verbindende Kraft des kollektiven Singens führte Lettland - und die übrigen baltischen Staaten - 1991 dann zum zweiten Mal in die Unabhängigkeit. Unter der sowjetischen Besatzung durften die patriotischen Dainas nicht gesungen werden, doch heimlich organisierte Sängerfeste schweißten die Bevölkerung noch enger zusammen. Während der Perestroika gingen dann Hunderttausende Menschen auf die Straße, um singend ihren Wunsch nach kultureller und nationaler Eigenständigkeit zu bekunden, dem sich die Sowjetunion schließlich nicht mehr widersetzen konnte. Bis heute wird die Volksdichtung als lebendige Tradition fortgeführt. Mittlerweile sind mehr als 1,2 Millionen Dainas und 30.000 dazu gehörige Melodien dokumentiert.

Lettisch hoch im Kurs

Auch im Bereich der Unterhaltungsmusik sind die Letten ausgesprochen kreativ. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stürzte sich das heimische Publikum zwar zunächst auf anglo-amerikanische Musik aus dem Westen, doch mit den Jahren hat der Anteil lettischsprachiger Popmusik in den Charts kontinuierlich zugenommen. Mittlerweile liegt er bei spektakulären 90 Prozent. Trotz Spannungen mit der früheren Besatzungsmacht sind viele russische Künstler in Lettland bekannt und beliebt, und nicht wenige lettische Bands haben den kleinen heimischen Absatzmarkt durch Zweitveröffentlichung ihrer Alben in russischer Sprache nach Osten ausgedehnt - darunter auch die ersten lettischen ESC-Teilnehmer Brainstorm, die unter dem Namen Prāta Vētra bis heute die heimischen Charts dominieren.

 

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 13.05.2017 | 21:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Lettland