Stand: 15.11.2016 16:19 Uhr

Änderung im ESC-Reglement: Werte oder Willkür?

Grafik, die die Zuschauer und Jury anhand von gezeichneten Männchen symbolisiert.  Foto: eurovision.tv
Das Abstimmungsverhältnis zwischen ESC-Fachjury und dem Publikum soll beim ESC 2017 flexibel gestaltet werden können.

Es ist nur ein kleiner Passus, der dem Reglement des Eurovision Song Contests 2017 in Abschnitt 1.1.3 hinzugefügt wurde, doch die Änderung hat es in sich: "Die Punkte der Jurys und der Zuschauer in den einzelnen Ländern sollen in einem Verhältnis miteinander kombiniert werden, das von der EBU festgelegt wird und von der Reference Group genehmigt werden muss. Falls dieses Verhältnis beispielsweise 50:50 ist, besitzen die Punkte der Jurys ebenso viel Gewicht wie die Punkte der Zuschauer." Das bedeutet, dass der Einfluss der Fachjury auf das Endergebnis künftig verringert werden könnte, unter Umständen aber auch erhöht - je nach Entscheidung der Reference Group.

Neue Regel ist ein fauler Kompromiss

Entsetzter Sergey Lazarev aus Russland im Greenroom. © NDR Foto: Rolf Klatt
Nach Jamalas Sieg 2016 forderte Komponist Filipp Kirkorov (rechts) eine Überarbeitung des Abstimmungsverfahrens.

Nach dem Sieg der Ukrainerin Jamala über den Russen Sergey Lazarev in Stockholm hatte Komponist und Produzent Filipp Kirkorov auf Instagram eine Überarbeitung des gegenwärtigen Abstimmungsverfahrens gefordert und vorgeschlagen, den Einfluss der Jurys auf 25 Prozent zu reduzieren. Es müsse etwas getan werden, damit Russland weiter am Wettbewerb teilnimmt. Und nachdem der Publikumsfavorit nun schon zum zweiten Mal in Folge durch die Entscheidung der Fachjurys knapp am Sieg vorbeigeschrammt ist (im Jahr davor traf es die Italiener), scheint die EBU mit der neuen Regelung ein Hintertürchen gefunden zu haben, um vergrämte Delegationen mit der Aussicht auf eine veränderte Gewichtung der Wertungen bei der Stange zu halten. Doch so sinnvoll es sein mag, den Einfluss der Fachjurys wieder zurückzuschrauben - die im neuen Reglement vorgeschlagene Lösung ist ein fauler Kompromiss, der der Glaubwürdigkeit des Wettbewerbs schadet.

Musikwettbewerbe definieren kulturelle Werte

Musikwettbewerbe sind so alt wie die Menschheit. Seit der Homo sapiens in der Lage ist, Gerätschaften Töne zu entlocken, konkurrieren diejenigen, die sich dabei besonders geschickt anstellen, um Lorbeeren für den schönsten, spektakulärsten oder kunstvollsten Vortrag. Doch es geht dabei nicht nur um das bloße Können. Im alten Griechenland dienten Wettbewerbe allgemein der Definition, was denn einen richtigen Griechen ausmacht. Das waren neben der körperlichen Fitness, die bei den Olympischen Spielen abgefordert wurde, auch musische Fähigkeiten. Dichtung und Vortrag waren gleichermaßen Gegenstand von Meisterschaften, in denen die Standards dafür festgelegt wurden, was die griechische Kultur gegenüber anderen auszeichnet - vielleicht auch einer der Gründe, warum das Wissen um das antike Griechenland bis heute erhalten ist.

Im Mittelalter wurden Meistersinger-Wettbewerbe unter denjenigen abgehalten, die sich die endlosen Heldendichtungen am besten auswendig merken konnten, denn sie waren die lebenden Geschichtsbücher und Kulturvermittler ihrer Zeit. Mit dem Buchdruck verlor diese Funktion an Bedeutung, dafür wurde im 19. Jahrhundert das virtuose Instrumentalspiel zu einem zentralen Wert, der im musikalischen Wettstreit verhandelt wurde. Heutzutage sind es Castingshows, die darüber bestimmen, welche Art von Gesang und Bühnenpersönlichkeit als repräsentativ für unsere zeitgenössische Popkultur anzusehen ist. Insofern stellt sich die Frage, welche Werte mit dem ESC Jahr für Jahr erneut auf den Prüfstand gestellt werden.

Wofür steht der Eurovision Song Contest?

Lys Assia beim Grand Prix d'Eurovision 1956 in ein Fotoalbum montiert. (Bildmontage) © Hintergrund: fotolia.com Foto: Hintergrund: Halfpoint
Als der ESC zum ersten Mal 1956 ausgetragen wurde, dachte noch niemand an den Kultstatus, den der Contest mal erreichen würde. Die Schweizerin Lys Assia holte damals mit ihrem Song "Refrain" den ersten Sieg beim Grand Prix Eurovision.

Es gab einmal eine Zeit, da war der Eurovision Song Contest ein Kompositionswettbewerb. In einem Nachkriegseuropa, dessen Länder sich durch die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs kulturell und emotional voneinander distanziert hatten, sollte er aufzeigen, wie viel uns trotz allem miteinander verbindet. Ein hehres Ziel, das seit Jahren immer stärker in Mitleidenschaft gezogen wird.

Stillschweigend hat man sich im Laufe der Jahre von den Zielen und Werten verabschiedet, die die Gründerväter des Eurovision Song Contests ins Reglement geschrieben hatten: Die Förderung des "qualitativ hochwertigen musikalischen Schaffens im Bereich der Unterhaltungsmusik" wurde 2004 als Ziel der Veranstaltung gestrichen, die Empfehlung, dass die Songs die Kultur des jeweiligen Landes widerspiegeln sollten, schon ein Jahr zuvor. Stattdessen rückte die Produktion einer Fernsehsendung nach dem modernsten Stand der Technik in den Vordergrund. Ziele? Zumindest keine, die noch irgendetwas mit Musik oder kultureller Identität zu tun haben.

Gummiparagraf könnte der Wertung den Reiz nehmen

Dass seit geraumer Zeit nun auch noch an der Wertung herumgedoktert wird, bereitet nicht nur mir Sorgen, sondern auch vielen anderen Fans. Gewiss, die Suche nach einem fairen Abstimmungsmechanismus, der Verzerrungen durch einzelne oder Gruppen von Menschen weitestgehend ausschließt, ist ein legitimes Ziel. Doch dafür muss es einen verbindlichen Rahmen geben. Schon mit der Einladung des assoziierten Mitglieds Australien hat sich die EBU über ihre eigenen Teilnahmekriterien hinweggesetzt, anstatt diese einfach den neuen Gegebenheiten anzupassen. Sollte nun auch noch die Gewichtung der einzelnen Abstimmungsanteile zur Verhandlungssache werden, wie der neue Gummiparagraf nahelegt, könnte die Wertung allmählich ihren Reiz verlieren - denn wenn der Ausgang eines Wettbewerbs von willkürlich veränderten Kräfteverhältnissen abhängt, welche Relevanz hat das Ergebnis dann noch? Als Forum, auf dem sich die europäischen Unterhaltungskulturen miteinander messen, verliert ein Eurovision Song Contest ohne feste Regeln seine Bedeutung und wird zur belanglosen Nummernshow. Und das will doch keiner, oder?

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 14.05.2016 | 21:00 Uhr

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