Stand: 06.12.2017 10:54 Uhr

Genres beim ESC: Was ist Rock?

Lordis Sänger lässt Funken sprühen © NDR Foto: Rolf Klatt
Die Rocker von Lordi mischten mit "Hard Rock Hallelujah" den ESC 2006 in Athen kräftig auf - und siegten.

"Rock Me" (Riva für Jugoslawien 1989 in Lausanne), "Rock 'n' Roll Kids" (Paul Harrington & C. McGettigan für Irland 1994 in Dublin), "Hard Rock Hallelujah" (Lordi für Finnland 2006 in Athen): Gleich drei Siegertitel beim Eurovision Song Contest tragen den Rock in sich - und könnten doch unterschiedlicher nicht sein. Tatsächlich bietet kein anderes Genre eine größere musikalische Vielfalt als die Rockmusik. Das liegt daran, dass die verschiedenen Spielarten des Rocks als Ausdruck von Jugend- und Protestkulturen entstanden sind, die sich musikalisch vom Mainstream abgrenzen wollten. Im Laufe der Zeit kam es zu einer Ausdifferenzierung in viele verschiedene Subgenres, wobei sich Anhänger und Gegner einzelner Varianten bis heute erbitterte Diskussionen liefern, wo beispielsweise Hardcore Punk aufhört und Thrash Metal anfängt.

Rock 'n' Roll beim ESC

Es ist schon verblüffend, wie weit sich die einzelnen Spielarten des Rocks von ihrem Ursprung, dem Rock 'n' Roll, entfernt haben. In seiner klassischen Form spielte er beim Eurovision Song Contest so gut wie keine Rolle, da die rebellischen Töne der importierten Musik den mitteleuropäischen Mainstream der späten 1950er-Jahre nur in sehr abgemilderter Form erreichten und die Programmgestalter in Hörfunk und Fernsehen sich ohnehin kaum um den Musikgeschmack der jüngeren Generation scherten. Alleine der deutsche Beitrag "So geht das jede Nacht" von Freddy Quinn brachte beim ersten ESC 1956 in Lugano ein wenig "Rock-Around-The-Clock"-Feeling auf die ESC-Bühne, allerdings ohne nennenswerten Erfolg.

Vom Beat zum Rock

Cliff Richard beim Grand Prix d'Eurovision 1973
Eine Band in klassischer Rock-Formation mit Gitarren, Bass und Schlagzeug gab es beim ESC erstmals 1973 bei Cliff Richards Begleitband The Shadows.

Mitte der 1960er-Jahre eroberte die aus dem US-amerikanischen Rock 'n' Roll und dem britischen Skiffle entstandene Beatmusik die europäischen Hitparaden - nicht aber den ESC, denn das Reglement untersagte bis 1971 die Teilnahme von Musikgruppen. Für Rockbands enthielt es außerdem noch eine weitere Hürde: Verstärktes Equipment und Schlagzeuge durften nicht mit auf die Bühne. Die für Beat- und Rockmusik charakteristische Konstellation aus zwei Gitarristen, einem Bassisten und einem Schlagzeuger oder Perkussionisten war beim ESC erst 1973 in Luxemburg zu sehen - und zwar in Gestalt von Cliff Richards Begleitband The Shadows. Es wäre allerdings wohl etwas verwegen, "Power To All Our Friends" als Rocktitel zu bezeichnen.

Fließende Übergänge und nationale Traditionen

Rock-Einflüsse waren dagegen schon zuvor in einzelnen Arrangements zu spüren, beispielsweise im jugoslawischen Beitrag "Tvoj dječak je tužan" von Krunoslav Slabinac 1971 in Dublin, der Psychedelic-Rock-Elemente aufweist, oder bei "Falter im Wind", mit dem die Milestones 1972 in Edinburgh als erste "richtige" Rockband für Österreich an den Start gingen und einen guten fünften Platz erzielten. Hier wird deutlich, wie schwierig die Zuordnung zum Rockgenre tatsächlich ist - und zwar nicht nur, weil die Übergänge zu Pop und Folk fließend sind: Viele Länder haben auf der Basis ihrer eigenen Traditionen nationale Rockmusik-Stile hervorgebracht, die sich zum Teil sehr von ihren angelsächsischen Vorbildern unterscheiden, zum Beispiel der "Anadolu Rock" in der Türkei.

Rock als Abgrenzung

Pertti Kurikka, Toni Välitalo, Sami Helle und Kari Aalto (von links) von der finnischen Band Pertti Kurikan Nimipäivät. © YLE Foto: Tiia Santavirta
Ist der ESC noch nicht bereit für Punk-Rock? Die finnische Band Pertti Kurikan Nimipäivät scheiterte 2015 am ersten Halbfinale.

Bis heute schwingt im Rockbegriff immer ein wenig Ideologie mit: Rockmusiker gelten gegenüber Popmusikern als authentischer und weniger kommerzorientiert. Die Grenzen zwischen den Genres sind dennoch fließend, was vor allem die Betreiber von Streaming-Plattformen vor eine Herausforderung stellt, denn die Zuordnung zu den einzelnen Genres erfolgt in den meisten Fällen anhand von Selbstauskünften der Plattenfirmen. So kommt es, dass Künstler sehr unterschiedlicher Musikfarbe dem Genre Rock zugeordnet werden - und die Such-Algorithmen zuweilen Musikvorschläge unterbreiten, die eher für Kopfschütteln als für Headbanging sorgen.

Eine Landkarte der Musikgenres

Das wissenschaftliche Projekt "Every Noise at Once" hat sich mit der Frage nach der Zuordnung zu einzelnen Musikgenres ausführlich beschäftigt. Das Ergebnis ist eine interaktive Landkarte der Musikgenres, wie sie in den Music Stores oder auf Streaming-Diensten verwendet werden, um die Nutzer durch den internationalen Musikdschungel zu lotsen. Jeder Begriff wird mit wechselnden Musikbeispielen illustriert. Eurovision sowie Classic Eurovision sind sogar als eigene Genres in der Begriffswolke zu finden. Es gibt viel zu entdecken, nicht nur im Bereich Rock. Viel Spaß beim Stöbern!

 

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Mary Roos 1984 beim Vorentscheid für den Grand Prix d'Eurovision in München. © dpa Foto: Istvan Bajzat

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Dieses Thema im Programm:

NDR Blue | ESC Update | 30.12.2017 | 19:05 Uhr