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Bergkarabach: Kann Aserbaidschan vom ESC ausgeschlossen werden?

Stand: 21.09.2023 15:34 Uhr

von Dr. Irving Wolther

Der Konflikt um die überwiegend von ethnischen Armeniern besiedelte Region Bergkarabach eskaliert und stellt die Europäische Rundfunkunion (EBU) vor eine neue Zerreißprobe. Eine Analyse von Dr. Irving Wolther.

Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine stellt nun ein weiterer bewaffneter Konflikt zwischen Mitgliedern der Eurovisionsfamilie die EBU vor unbequeme Entscheidungen: Aserbaidschan rückt auf die armenische Enklave Bergkarabach vor und will den seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt um die mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohnte Region nun auf militärischem Weg lösen - mit allen schrecklichen Folgen, die das für die dortige Zivilbevölkerung nach sich zieht. Es ist nicht damit zu rechnen, dass sich die Aserbaidschaner davon abbringen lassen werden, die Operation bis zum Ende zu führen. Will heißen: Bis Bergkarabach wieder vollständig unter aserbaidschanischer Kontrolle ist. Und das dürfte viele Tausend Menschen das Leben kosten. Was bedeutet das für den Eurovision Song Contest 2024 und müsste Aserbaidschan von der Teilnahme in Malmö ausgeschlossen werden?

Für Aserbaidschan könnten gleiche Gründe wie für Russland gelten

Sollte sich der Konflikt in die Länge ziehen, könnte sich die EBU schon bald in einer ähnlichen Lage wiederfinden wie 2022 nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, als sie nach heftigem Aufbegehren mehrerer Delegationen Russland von der ESC-Teilnahme ausschließen musste - offiziell, weil eine russische Teilnahme unter den gegebenen Umständen dem Ruf des Wettbewerbs geschadet hätte. Dies könnte sich wiederholen, sollten sich die Kampfhandlungen in Bergkarabach über einen längeren Zeitraum hinziehen und zu einer humanitären Katastrophe führen, wodurch sich die öffentliche Meinung in vielen Teilnehmerländern gegen Aserbaidschan und damit gegen eine Teilnahme des Landes am ESC wenden würde. Doch das ist gegenwärtig rein hypothetisch.

In der Politik ist Krieg nicht gleich Krieg

Tatsächlich besteht zwischen dem Angriff Russlands damals und dem Angriff Aserbaidschans jetzt ein entscheidender Unterschied: Russland hat durch seine Militäraktionen die territoriale Integrität eines anderen Landes verletzt, Aserbaidschan will durch seinen Vormarsch die eigene territoriale Integrität wiederherstellen. Zudem steht Aserbaidschan als Verbündeter des NATO-Staats Türkei und wichtiger Gaslieferant in den Augen vieler westlicher Staaten auf der "richtigen" Seite, während Armenien und die von ihm wirtschaftlich abhängige Region Bergkarabach viele Jahre nur durch Wladimir Putins schützende Hand vor einer aserbaidschanischen Intervention bewahrt wurden. Der politische Druck aus dem Westen dürfte daher eher bescheiden ausfallen.

Ausschluss aus der EBU - keine einfache Sache

Doch genau dieser politische Druck wäre der einzige Grund für die EBU, Aserbaidschan von einer ESC-Teilnahme auszuschließen, denn der Wettbewerb findet zwischen den nationalen Rundfunkanstalten statt, und der öffentlich-rechtliche Sender Ictimai hat (zumindest bis jetzt) keinen Anlass dazu gegeben, über einen Ausschluss aus der EBU nachzudenken. Anders als der belarussische Sender BTRC, dessen Mitgliedschaft in der EBU ausgesetzt wurde, weil er gegen grundlegende Prinzipien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und der Pressefreiheit verstoßen hat. So wurden dort beispielsweise Interviews ausgestrahlt, die von den Gesprächspartnern unter Zwang gegeben wurden.

Komplexe geopolitische Verhältnisse

Natürlich werden jetzt wieder die Stimmen derjenigen laut, die schon immer der Meinung waren, man hätte den ESC nicht für Länder wie Aserbaidschan öffnen sollen, also für den Osten des europäischen Kontinents und seine angrenzenden Gebiete, die als Teile der Europäischen Rundfunkzone beziehungsweise Mitglieder des Europarats Anrecht auf eine Vollmitgliedschaft haben. Doch die geopolitischen Verhältnisse in diesem Teil der Welt sind nun einmal komplex, und in der Vergangenheit gab es religiöse und ethnische Konflikte und Kriege auch im Westen. Und weder Frankreich wurde wegen des Algerienkriegs vom ESC ausgeschlossen noch das Vereinigte Königreich wegen des Blutsonntags in Nordirland, oder Griechenland und die Türkei wegen der wechselseitig auf Zypern begangenen Massaker an der Zivilbevölkerung.

Konflikt auf offener ESC-Bühne

Aserbaidschan hat seine Teilnahme am ESC in Malmö bereits im Juli bestätigt und den nationalen Auswahlprozess gestartet. Aus Armenien ist gegenwärtig noch nichts zu vernehmen. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Situation weiterentwickelt. Sollten die Aserbaidschaner Bergkarabach zügig erobern und wieder in ihr Territorium eingliedern, dürfte sich die Welt bis zum nächsten ESC leider kaum noch für das Thema interessieren. Es ist allerdings zu erwarten, dass Armenien im Falle einer Teilnahme die ESC-Bühne nutzen wird, um den Konflikt nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Umgekehrt hatte auch Aserbaidschan beim ESC in Baku 2012 bei jeder Gelegenheit auf die aus Bergkarabach vertriebenen Aserbaidschaner hingewiesen, die als Flüchtlinge im eigenen Land lebten.

Von Generation zu Generation

Die Tragik des Konflikts, die auf beiden Seiten schon so viele Opfer gefordert hat, konnte ich damals jenseits politischer Parolen und Nachrichtenschlagzeilen mit eigenen Augen und Ohren erleben, als ich mit dem Nachtzug von Tiflis nach Baku fuhr. Im Gang des ratternden Waggons stand ein etwa 30-jähriger Mann mit seinem kleinen Sohn und zeigte auf die Gipfel von Bergkarabach am Horizont, die von der aufgehenden Morgensonne in goldenes Licht getaucht wurden. "Da hinten", sagte er zu dem Jungen, "ist dein Papa geboren", und fügte mit Tränen in den Augen hinzu: "Und eines Tages gehen wir wieder dorthin zurück." In zwanzig Jahren wird ein armenischer Vater vermutlich das Gleiche zu seinem Kind sagen.

Dieses Thema im Programm:

NDR Blue | ESC Update | 30.09.2023 | 19:05 Uhr

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