Stand: 27.05.2013 11:08 Uhr

Politische Seufzer danach

Cezar und Tänzer auf der Bühne beim ESC 2013. © NDR Foto: Rolf Klatt
Rumäniens Teilnehmer Cezar singt auf der Bühne in Malmö.

Wenn es noch eines entscheidenden Beleges für die These bedürfte, der Eurovision Song Contest sei immer mehr gewesen, als ein Treffen von inzwischen drei dutzend Ländern, um am Ende ein Siegerlied zu wählen, dann bekommt man ihn dieses Jahr auf das Fetteste. Denn wenn es wirklich frei von Politischem wäre, so wie der bei der European Broadcasting Union zuständige ESC-Supervisor Sietse Bakker immer wieder betont, dann müsste man sich die Lage so vorstellen: “Gottchen, okay, nicht so gut abgeschnitten (etwa aus der Sicht von Rumänien), zwar in Italien allerbestens beim Televoting abgeschnitten und trotzdem im Land des Belcanto abgestraft … einerlei.”

Nein, so läuft es nicht. Fast alle Länder überlegen nun, ob sich hinter bestimmten – enttäuschenden! – Platzierungen nicht eine übermusikalische, also politische Bedeutung verbirgt. In Osteuropa, besser: in Ländern, die einst zur Sowjetunion gehörten, wird der ESC gar zur Affäre. Um diese schalten sich nun die Eliten der Länder mit Stellungnahmen ein, wovon hier der vorzügliche Osteuropaexperte Klaus-Helge Donath aus Russland und Aserbaidschan berichtet. In Baku selbst, berichtet eine dänische Boulevardzeitung (Anm. d. Red.: der hier zuvor eingefügte Link wurde vorerst zur Prüfung entfernt ), soll man inzwischen zugeben, geschummelt  zu haben.
Sietse Bakker und die EBU beharren jedoch darauf: Alles sei korrekt gelaufen, manches harre noch der näheren Prüfung – aber die Televotingfirma (in Deutschland ansässig) und die Kontrollinstanz (international operierend: PriceWaterhouse Cooper) hätten alles im Griff. Es bedarf also näherer Erörterungen, mindestens auf der nächsten Sitzung des “Zentralkomitees” der Reference Group des ESC, Ende Juni 2013 (bei der aber, so hört man, noch nicht bekanntgegeben wird, ob nächstes Jahr die Karawane in Kopenhagen, Apenrade, Odense oder auf Bornholm in Freiluftzelten Halt machen wird).
Sicher ist nur dies, und hier danke ich einem Facebook-Freund für die Vermittlung dieses Links: Nachgerechnet hat nämlich der Mathematiker Holger Dambeck, dass Emmelie de Forest auch nach einem anderen Schlüssel gewonnen hätte, wenn also die Ländervotings nach Einwohnerzahlen gewichtet worden wären.

Die Reference Group hat diese Prüfung vor einigen Jahren durchgeführt, nach dem vor allem in Deutschland gewaltig geäußerten Vorwurf, der Ostblock mache sich durch Absprachen den ESC untertan. Dabei kam heraus, dass alle Sieger des ESC in allen Punktevarianten die Gewinner gewesen wären. Also: Wenn nur Juries Geltung hätten, wenn nur das Televoting zählte, wenn man die Einwohnerzahlen gewichtete, wenn es ein Gesamtvoting nach der Zahl der Stimmen (ohne Juries) ohne Ländersplitting gäbe, oder oder oder. Das heißt: Ruslana hätte auch ohne Osteuropa gewonnen, Lordi ohne den Osten, sogar ohne den Westen. Und Lena wäre am Osloer Triumph durch kein Auszählverfahren gehindert worden.
Was aber mir der wichtigste Punkt ist: Wenn Sietse Bakker sagt, eine Balance aus Transparenz und Fairness bleibe wichtig – und das bedeutet: keine vollständige Offenlegung der Besetzung der Juries, der Televotingzahlen, der Festlegung des Quorums, von dem an überhaupt ein Televoting gelten kann -, dann verkennt er das europäische Gefühl: “Na, da wird wieder geschummelt.” Dass das ein Gefühl ist, das am ESC festhakt, was eigentlich Brüssel oder die EU meint – ist egal.
Ich wäre dafür, alle Wertungsverhältnisse transparent zu machen. Und die Juries einer näheren Begutachtung zu unterziehen – wer steht in welchem Abhängigkeitsverhältnis zur Musikindustrie, zu politischen Regimen und so weiter.

P.S.: Aserbaidschan muss eine Strafe zahlen. Ganz offiziell bestätigt. Warum? Während Armeniens Vortrag hat sich Ictimai TV aus Baku faktisch ausgeschaltet. Man konnte den Act aus Eriwan nicht sehen. Das ist verboten. Die Strafe bewegt sich bei 2.700 Euro. Diesen Betrag als lächerlich zu bezeichnen, wäre  stark untertrieben. Wichtiger wäre ein Beschluss: beim nächsten Mal Ausschluss!

P.P.S.: Stefan Niggemeier liegt richtig mit seinem Kommentar vom 27. Mai um 11.33 Uhr - ein Lob seinen Dänischkenntnissen: Im dänischen “Ekstrabladet“ stand unter der Überschrift “Aserbajdsjan erkender point-fusk i Melodi Grand Prix” geschrieben, und so hatte ich das auch notiert, “Aserbaidschan gesteht Punkte-Schwindel beim ESC”. Tatsächlich war mein Blick nicht gründlich, denn der dänische Artikel (hier vom Kopenhagener Martin Unger übersetzt) legt über den Titel ein Eingeständnis nahe, das im Text nicht belegt ist. Wörtlich heißt es: “Mit großer Verwunderung wurde vermerkt, dass Aserbaidschan am Samstag bei der Eurovision 2013 Russland nicht mit Punkten bedachte.” Und: “Auf einer Pressekonferenz gestern pflichtete der Außenminister Aserbaidschans, Elmar Mammadyarov, seinem Kollegen (Anmerkung der Redaktion: Sergej Lawrow aus Russland) bei: ‘Die Verlesung der asserischen Punkte kam für uns wie ein Schock’, sagt Mammadyarov (…). Ihm zufolge habe das Mobilfunkunternehmen des Landes angegeben, Russland sei beim Televoting Zweiter geworden, welches 10 Punkte für das Land bedeutet hätte. Als aber die Punkte live beim Finale verlesen wurden, gab es für Russland keine Punkte. Stattdessen erhielt Georgien 10 Punkte, welches Mammadyarov nun dazu veranlasst, der Sachen auf den Grund zu gehen.” Das aber ist nicht weiter anstößig, denn der Außenminister Aserbaidschans hat offenbar lediglich vom Televotingresultat erfahren und nicht bedacht, dass ein Resultat sich aus dem Televoting- und dem Juryergebnis zusammensetzt. Dass also Russland keine Punkte erhielt, muss damit zu tun haben, dass die Jury in Baku Dina Garipova mit so gut wie keinen Punkten bedachte. Der “Ekstrabladet”-Text skandalisierte mithin auf Basis eines fehlinformierten Ministers. Misslich, dass ich diese Überlieferung hier mit transportiert habe.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 18.05.2013 | 21:00 Uhr