Bart überm Kleid reichte nicht
Vor einer Woche war Conchita Wurst auch auf sieben Wolken, um mal ein estnisches Sprichwort für überwältigende Glücksgefühle zu zitieren. Keine ESC-Siegerin hat in den vergangenen 16 Jahren so viel europäische Aufmerksamkeit bekommen. Fast niemand, der diese Frau mit Bart nicht zum Thema machte. Die Medien, von den russischen bis zu den portugiesischen, von isländischen bis maltesischen, erörterten, dass sie, der Mann im eleganten Frauenfummel, den ESC gewann. Im überwiegend Guten wie auch im Negativen: Den einen war und ist die Österreicherin ein Beweis für europäische Toleranz, anderen ein Indiz für Verfall.
Sieg wegen europäischer Toleranz?
Ein guter Freund fragte mich nun auf Facebook, er bekomme zu hören, sie habe nur wegen des dunklen (ja auch nachgefärbten) Barts gewonnen. Also wegen der Travestie-Nummer. In der Tat höre ich gelegentlich, Conchita Wurst sei die Siegerin geworden, weil sie als Figur so witzig gewesen sei. So klamaukig in der Tradition von Guildo Horn, Stefan Raab und, österreichisch gesehen, von Alf Poier. Davon abgesehen, dass nur Poier wirklich Kabarett dargeboten hat und die beiden Deutschen ihre Shows mitnichten als unecht und unernst verstanden haben, stellen sich tatsächlich diese Fragen: Hat Conchita Wurst als Witzgeschichte funktioniert? Weil nämlich, diesem Verständnis nach, die Auffummelung zur Drag Queen ja nur scherzhaft gemeint sein könnte? Und: War es ein Akt europäischer Toleranz, diesen Tom Neuwirth als Drag Queen zu akzeptieren?
Sechs queere Acts seit 1997 vor Conchita
Gucken wir uns also die Vorgänger und Vorgängerinnen von Conchita Wurst beim ESC an. Es sind sechs Acts, die im weitesten Sinne mit Geschlechtsrollen über das bekannte Mann-Frau-Schema hinaus spielen. Zunächst 1997 Pall Oscar aus Island, ein Jahr darauf Dana International aus Israel, 2002 das Travestietrio Sestre aus Slowenien, 2007 gleich drei, Verka Serduchka aus der Ukraine, Drama Queen alias DQ aus Dänemark sowie Marija Serifovic aus Serbien.
Warum haben weder Pall Oscar, noch Sestre, noch Drama Queen gewonnen, sehr wohl aber die Israelin und die Serbin, hinter der außerdem die Ukrainerin auf dem zweiten Platz landete?
Pall Oscar war der erste Act in der ESC-Geschichte, der ersichtlich aus dem Fundus queerer, also auch schwuler Ästhetik schöpfte. Von "Minn hinsti dans" handelte 1997 vom letzten Tanz - aber ob das Publikum diese Botschaft auch textlich verstand, ist einerlei: Der Isländer räkelte sich auf einem Sofa, hinter ihm Frauen in Latexkostümen, aussehend wie schlanke, elegante Assistentinnen aus einem Rotlichtclub der gehobenen Sorte. Pall Oscar ließ keinen Zweifel daran, dass es eine schwule Performance gewesen sei. Eine, die mit Geschlechtsrollen gespielt habe. Er landete weit hinten auf Platz 20 (von 25).
Dana International wurde vor dem ESC von Birmingham als transsexuell benannt. Stimmte auch - nur könnte es auch so gewesen sein, dass 98 Prozent aller europäischen Zuschauer das gar nicht mitbekommen haben. Man denkt ja oft, ein ESC-Zuschauer (zumal in jenem Jahr das Televoting eingesetzt wurde) habe einen Schreibblock vor sich und verarbeite für seine Gunst alle Infos. Etwa auch die, dass eine schöne Sängerin mal ein männliches Wesen war. Bei der Israelin, die in ihrem Land von ultraorthodoxen Kräften angefeindet worden war, wird das ein flüchtiges Moment gewesen sein: Man sah sie "Diva" darstellen (ob Dana sang oder doch eine Choristin, ist bis heute ungeklärt) - und fand das sehr schön und beeindruckend. Sie gewann knapp vor der Britin Imaani. Die Siegerin widmete ihren Triumph ihrem Land zu dessen 50. Geburtstag, aber auch allen Schwulen und Lesben in aller Welt. Sie ist eine eurovisionäre Legende geworden.
- Teil 1: Sieg wegen europäischer Toleranz?
- Teil 2: Marija Šerifović aus Serbien war der Hammer schlechthin