Stand: 19.05.2014 12:53 Uhr

Bart überm Kleid reichte nicht

Sestre beim Eurovision Song Contest 2002 © NDR
Kamen über den 13. Rang beim ESC 2002 nicht hinaus: die Slowenier von Sestre.

In diese Tradition traten drei Männer aus Slowenien ein. Sie nannten sich "Sestre", Schwestern. Im eigenen Land waren sie hochumstritten, in der Hauptstadt Ljubljana waren sie beliebt - aber in den umliegenden Dörfern regelrecht verhasst. Dass sie über den 13. Rang nicht hinauskamen, wird auch daran gelegen haben, dass man ihr Anliegen nicht recht verstehen konnte. Drei Männer, die irgendwie wie Stewardessen aus einem Film Pedro Almodóvar aussehen, deren männliche Gesichtsphysiognomie man auf Anhieb erkannte und wenn nicht, dann durch diese eher nicht zustimmend irritiert wurde - das ging beim Gesamtpublikum nicht durch, das hinterließ kein Gefühl von Kampf und Charme. Unentwegt lächelten sie schief in die Kameras - als ob sie sich selbst nicht für voll nehmen.

Verka Serduchka hatte ein tanzbares Lied

Verka Serduchka ist ein anderer Fall. Das ist ein Mann, der jüngst wieder in Kopenhagen bejubelt wurde, und die Rolle der ukrainischen Landfrau gibt. Ihr "Dancing Lascha Tumbai" (was angeblich als "Dancing Russia Goodbye" verstehbar gewesen sein soll) trug sie im bolschewistischen Provinzputzfrauenfummel vor. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie den zweiten Rang eroberte, weil das Lied einfach gut tanzbar war.

Weitere Informationen
Verka Serduchka vertritt die Ukraine 2007 beim Grand Prix © picture-alliance/ dpa Foto: Lehtikuva Heikki Saukkomaa

Ukraine: Verka Serduchka

Die Kunstfigur fällt auf: Im Sternen-Outfit und mit skurrilen Textzeilen eroberte Verka Serduchka mit "Dancing Lasha Tumbai" den zweiten Platz in Helsinki. mehr

Drama Queen alias DQ aus Dänemark war in jenem Jahr in schwuler, in queerer, Hinsicht expliziter. Ihr Lied, das auch "Drama Queen" hieß, war eine Drag-Nummer, die dem enervierenden Klischee der Euro-Disco-Ästhetik Futter gab. Nein, das sah wie eine billige Tuntennummer aus, das hatte das Flair von Witzigkeit - und man konnte es dem Dänen, der da in die Rolle der Dramakönigin geschlüpft war, ansehen, dass er sich irgendwie nicht perfekt und gerüstet fühlte. Das Publikum, lernte man, fährt nicht automatisch auf die Frivolität des mit Geschlechtsrollen spielenden Performers ab. Es war ihm, Peter Andersen, eine Drag-Geschichte, eine Verkleidungsnummer: Nie ließ er einen Zweifel, dass er, ähnlich wie Conchita Wurst, nicht vor einem Geschlechtswechsel stünde, sondern ein Mann sei und bleiben werde.)

Marija Šerifović war hingegen 2007 in Helsinki der Hammer schlechthin. Vielleicht ist die Sensation ihrer Performance damals auch in Deutschland deshalb unbemerkt geblieben, weil man hierzulande mit dem Kummer beschäftigt war, dass Roger Cicero nicht sehr gut abgeschnitten hatte. Aber: Die Serbin, stämmig gebaut, trat in einem Garçonne-Männerkostüm auf und sang ihr Gebet namens "Molitva". Begleitet wurde sie von einem vollkommen untypischen Frauenchor, der nicht in einem angemessenen Abstand hinter ihr sang, sondern sie körperlich berührte, wie eine fast gleichberechtigte Unterstützertruppe, ein Chor, der nicht minder 'männlich' angezogen war. Sie war ein Drag King fast, die gewann, weil sie politisch als serbische Nationalistin positioniert war, weil sie so sang wie Conchita Wurst: in einer Haltung unerschütterbarer Ernsthaftigkeit, ironiefrei, witzlos, grandios.

Ein queeres Spiel mit Rollen reichte nie

Weitere Informationen
Marija Serifovic vertritt 2007 Serbien beim Grand Prix © dpa Foto: Jörg Carstensen

Serbien: Marija Šerifović

Die Siegerin des ESC 2007 entstammt einer Künstlerfamilie. Schon mit zwölf Jahren hatte sie ihren ersten öffentlichen Auftritt. mehr

Und dann eben die Wurst: Tom Neuwirth aus Bad Mitterndorf, der ein Mann ist und in Kopenhagen bei "Rise Like A Phoenix" nicht wie ein Bond-Girl aussah, sondern wie eine Gegenspielerin (der gebrochenenen Machohaftigkeit) James Bonds. Sie gewann, meinem Eindruck nach, weil sie das Kostümierte vergessen machte. Weil das Publikum ihr abnahm, dass sie ein Anliegen hat, eine Botschaft, ein Interesse, das nicht abgegolten wäre mit einem einfachen Auftritt. Die ganzen drei Minuten war sie eine Frau, die wie natürlich einen Bart trägt, wie ein Accessoire, das schön aussieht, nicht nur verstört.

Ästhetik überzeugte

Mit anderen Worten: Eine offen schwule Performance, ein queeres Spiel mit Rollen und Outfits reichte nie. Man muss den Mainstream erreichen, nicht nur die Minderheit. Und weil das Siegeslied auch einen schönen, chansonhaften Text hat, kann man Conchita Wurst eher in die Tradition von Isabelle Aubret, Frida Boccara oder Céline Dion setzen - die aus ihren Auftritten auch kleine Göttinnendienste machten, als ästhetisches Angebot überzeugten.

ESC-Gewinnerin Conchita Wurst mit ihrer Siegertrophähe umringt von Pressefotografen. © NDR Foto: Rolf Klatt
Conchitas Leistung in Kopenhagen war grandios - das eurovisionäre Volk liebt Außenseiter.

Es war jedenfalls nach meinem Eindruck kein Sieg, der überwiegend mit europäischer Toleranzbereitschaft zu tun hatte - wenn auch gewiss am Rande. Aber: Das Publikum des ESC liebte immer Außenseiter, die Anderen und die Risikobereiten. Von dieser Mélange des Nichtkonventionellen bekam das eurovisonäre Volk am 10. Mai 2014 hinreichend geboten. Doch genau diese Mixtur musste auch erst einmal geschafft werden, stimmlich vor allem. Keine Naht durfte aufgehen. Das hat Conchita Wurst, die ja Tom Neuwirth immer ist und "das Wurst" (wie es in Wien nun heißt) nur auf der Bühne. Nur alles mit Toleranz zu erklären, hieße, die Leistung dieses Performers sehr zu relativieren. Diese Leistung, war grandios. Und das gab den Ausschlag!

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 10.05.2014 | 21:00 Uhr