Conchita Wurst hat die Zeit ihres Lebens
Man muss sich Thomas Neuwirth, Künstlername Conchita Wurst, momentan als einen wirklich lebenszugewandten Menschen vorstellen: Aufgewachsen in Bad Mitterndorf, geboren 1988 in Gmunden, Oberösterreich, hat dieser junge Mann früh schon das Gefühl gehabt, für die Bühne geschaffen zu sein. Und nun tingelt dieser Künstler durch Europa und freut sich auf den Mai, wie er mir in einem ausführlichen Telefonat erzählt. Neuwirth ist eine der glamourösesten Figuren in der Geschichte des ESC und tritt mit einem James-Bond-artigen Lied (und Anflügen der Stimme von Adele) beim ESC für Österreich an. Und wer weiß, wie entschlossen in unserem Nachbarland Männer grundsätzlich als heterosexuelle gedacht werden, kann erahnen, wie besonders Conchita Wurst in diesem Contest ist. Eine österreichische Ski-TV-Übertragung reicht, um zu erkennen, wie provokant ein Sänger ist, der wie ein weibliches Model ausschaut - wenn da nicht der Bart wäre. Frau Wurst ist heute von einem pfiffigen Aprilscherz heimgesucht worden. Angeblich soll eine internationale Kosmetikfirma viel Geld für diese Österreicherin geboten haben, auf dass sie künftig für deren Verschönerungslinie werbe. Nur der Bart müsse ab. Das Management dementierte umgehend: "Nein, das hat was mit dem 1. April zu tun. Außerdem könnte der Bart geschoren sein, in fünf Tagen wäre er wieder so da, wie er jetzt ist."
Die haarige Diva genießt das Jetset-Leben
Was diese Interpretin momentan macht, kommt gewiss einer Traumerfüllung gleich: Von Flugzeugen transportiert durch Europa jetsetten. So von wegen Dreiwettertaftgefühl - goßes Kino, so wie ihr Lied "Rise Like A Phoenix". Heute Wien, morgen Madrid, Clubkonzert auf Einladung des spanischen Fanclubs, von dort gen Riga, über Frankreich, Deutschland, Polen und die Ostsee hinweg. Und überall viel Beifall für eine, die so auffällt, wie vor 16 Jahren Dana International ausIsrael. Frau Wurst wirkt, vom irritierenden Bart abgesehen, weiblicher, Heidi-Klum-mäßiger, als die allermeisten jungen Frauen, die sich einem Beauty-Contest unterwerfen.
Wobei man ja den ESC an dieser Stelle ein wenig weg von Conchita Wurst nehmen muss: Die Zeit zwischen Nominierung als ESC-Teilnehmende und dem Auftritt beim größten Popfestival Europas ist für sehr viele, die um Punkte und Plätze singen, der Zenit der Karriere. Man kommt rum, überschreitet den eigenen, nationalen Horizont, ist dauernd auf Achse, muss Werbung machen - und wird von den Gastgebern prima behandelt. Was nach dem ESC wird, ist vor diesem einerlei. Jetzt geht es um die große weite, manchmal eher nur nachbarschaftliche Welt. Aber es gibt allen Künstlern und Künstlerinnen ein Gefühl von Internationalität und Wichtigkeit. Man kann das böse nehmen, aber: Solch ein Gefühl kennen Weinköniginnen, Karnevalsprinzen oder Oscar-Gewinner auch. Die Werbetour ist das schönste Geschenk! Conchita Wurst führt also ein Leben zwischen Make-Up-Töpfen und -Tiegeln, in Puderwolken und Haarspray, wobei die Instrumente der Verschönerung Bürsten und Bürstchen sind: Sie ist in dieser Hinsicht sehr glaubwürdig.
Conchita Wurst vermisst Toleranz
Am Theater, sagt Conchita Wurst, habe es schon oft Frauen mit Bart gegeben - insofern müsse ihr Gesichtsschmuck als Accessoire des Andersweiblichen gesehen werden. Die Idee, aus der künstlerischen Identität des Tom Neuwirth zu switchen und die einer Frau Wurst anzunehmen, kam in noch jüngeren Jahren. Warum nicht?, fragt sie rhetorisch, weshalb sollten Männer keine Frauen sein können, die wiederum Männer gut finden, welche Frauen gut finden. Es gehe doch immer um Menschen, man begehre doch nicht eine Geschlechtssorte, sondern einen Menschen. Nun ja, das möchte man bezweifeln, aber der ESC ist kein Forum, um sexualwissenschaftliche Themen zu erörtern, jedenfalls nicht in gebotener Gründlichkeit. Das Grundproblem, sagt Conchita Wurst, sei fehlende Toleranz. Die Welt sei doch viel zu karg gesehen, würde man sie immer nur mit dem Mann-Frau-Schema betrachten. Er, beziehungsweise sie, sei ein Mensch, darauf komme es an. In Foren, wo auch sehr, sehr hässliche Botschaften stehen, ist Conchita Wurst durchaus umstritten. Manche Österreicher scheinen sich zu wünschen, dass ihre Kandidatin für den ESC an der Qualifikation zum Finale scheitert. Einige nennen sie übergeschnappt, vermessen, das pure Grauen oder eine Zumutung schlechthin.
Wie man aus der ESC-Geschichte weiß, ist eine kontroverse Kandidatin nicht schlecht. Weder für die Kandidatin noch für das Land, das sie repräsentiert. Verka Serduchka aus der Ukraine war ja mit das Beste, was diesem Land nach Ruslana passieren konnte. Auch Guildo Horn war in Deutschland (und international) ein Erfolg, weil er mit den Klischees spielte - der beste Liberace ohne Klavier, den Deutschland nie hatte. Conchita Wurst hat momentan die Zeit ihres Lebens. Soviel Aufmerksamkeit war nie. Viele Kreative sind von der Chanteuse begeistert: Sie hat im österreichischen Zeichen- und Textkünstler und Cartoonist Tex Rubinowitz einen ihrer größten Fans. Soweit man hörte, findet Marianne Mendt die Wurst gut, und gewiss André Heller: Hinter ihr steht das Österreich, das nicht bräsig vor sich hinmeckert, sondern auch Lust am Anderen schlechthin hat. In dieser Woche wird Conchita Wurst wieder packen müssen. Wahrscheinlich viele Koffer und Köfferchen - am Wochenende ist das ESC-Konzert in Amsterdam. Mit ihr darf man dort rechnen. Und mit heftigem Applaus!