Stand: 23.02.2016 17:34 Uhr

Jamalas Song "1944": Nützt Politisches beim ESC?

Aus der Perspektive des ESC schlechthin war der Sieg von Jamala bei der ukrainischen Vorentscheidung ein Coup. Eine Schlagzeile an sich! Mehr Publicity geht fast nicht. Eigentlich sind Qualifikationsrunden für den ESC kein Gegenstand der Berichterstattung - es sei denn, sie gehen um das eigene Land. Dass aber die ARD-Tagesthemen den Sieg von Jamala mit einem Filmbericht begleiteten, dass hierzulande so gut wie alle Zeitungen darüber berichteten - die taz gar mit einem ganzseitigen Gespräch mit der Siegerin -, das lässt uns staunen: Jamala hat sich diese Medienunterstützung redlich verdient. Sie singt das auch musikalisch anspruchsvoll klingende Lied "1944" - das, so erfahren wir eben aus allen Medien, vom Schicksal der sowjetischen Vertreibung von Krimtataren von der Krimhalbinsel in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts berichtet.

ESC-TÜV im März

Es ist ein ausgesprochen politisch inspiriertes Lied - ja, es ist sogar aufklärerisch gemeint. Es will sich von ESC-Beiträgen unterscheiden, die lediglich die üblichen Themen wie Liebe und Liebe und Liebe zum Thema haben. Ob "1944" wirklich in Stockholm zum Halbfinale antreten wird, ist in gewisser Hinsicht offen: Die Reference Group des ESC wird erst im März entscheiden, ob der Text des Liedes wirklich keiner Beleidigung des russischen Nachbarn gleichkommt. Eine Art ESC-TÜV also. Sofern der ukrainische Sender argumentiert, dass ja nur Geschichtliches gemeint sei, kann dem Auftritt Jamalas in Stockholm kaum etwas im Wege stehen. Wie auch immer die Statements aus Russland oder aus Kiew lauten: Sicher ist, dass Jamala und ihr Lied auch eine Kritik an der russischen Eroberung der bis vor Kurzem zur Ukraine gehörenden Krimhalbinsel beinhaltet.

Dabei hat es verschiedene Umgangsweisen mit politischem Material beim ESC gegeben. "Ein bisschen Frieden" wurde selbst von empfindsamsten Seelen im eurovisionären Europa nicht als deutscher Propagandafeldzug für ein bisschen mehr Friedensbewegung gesehen. Auch 1976 stieß sich niemand an der Griechin Mariza Koch, die in ihrem Lied "Panaghia mou, panaghia mou" eine ziemlich erhitztes, ja verstörend hysterisch gesungenes Anklage in Noten performte. Frau Koch beklagte nämlich die damals sehr gewichtige Besatzung des türkischsprachigen Teils der Insel Zypern durch griechisch-zypriotische Truppen. Das war als politischer Inhalt kaum zu überhören, aber die Türkei - die hätte protestieren können - nahm nicht teil. Mariza Koch jedenfalls landete im Schlussfeld. Das aber lag nicht an der politischen Botschaft, sondern, so vermuteten alle, an der trotz schön gesungener drei Minuten viel zu geringen Gefälligkeit des Acts.

Weitere Informationen
Die albanische Sängerin Rona Nishliu. © Eurovision TV Foto: Andres Putting
3 Min

Albanien: Rona Nishliu - "Suus"

Viel Stimme, viel Power präsentierte Rona Nishliu für Albanien. Die Sängerin ging 2012 mit ihrem selbst geschriebenen Klagelied "Suus" an den Start und polarisierte damit bei den Fans. 3 Min

Kein Schwermutfestival

So würde es, höchstwahrscheinlich, auch in Stockholm sein. Träte Jamala mit "1944" an, würde das Publikum von 120 Millionen Menschen kaum den Worten der Moderatoren wie Peter Urban für die ARD zuhören. Man hört sich eben die Show an und bewertet für das Televoting die ästhetische Appetitlichkeit eines Liedes, nicht den politischen Inhalt direkt. Bis auf wenige Experten sitzt niemand am Bildschirm und wägt die Worte eines Liedes. Insofern wird "1944" als Lied hörbar sein, das ungewöhnlicherweise einen Titel hat, der wie eine Jahreszahl klingt - aber das Abschneiden der Ukrainerin aus krimtatarischer Familie wird davon abhängen, ob das Publikum (und die Jurys) ihrem jazzigen Operngesang sympathisierend gewogen sind oder ihr Gesang als allzu nervig abgetan wird. 2012 landete die Albanerin Rona Nishliu mit "Suus" auf dem fünften Platz: Ihre schrillen Vokalisen wurden offenbar wie Wohlklang empfunden.

Politisches auf die direkteste Art geht also im großen Klangbild verloren. Jamalas wichtigste Botschaft - das Leid ihrer krimtatarischen Vorfahren - ist sie jetzt losgeworden. Sie hat die ukrainische Vorentscheidung gewonnen, und alle Welt hat darüber berichtet: Ob sie in Stockholm noch eine Schlagzeile wert ist, kann bezweifelt werden. Der ESC ist schließlich kein Schwermutfestival!

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 14.05.2016 | 21:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

2016

Ukraine