Stand: 01.05.2014 14:56 Uhr

Georgien: Wiege der Mehrstimmigkeit

The Shin feat. Mariko Ebralidze © EBU Foto: Thomas Hanses
2014 treten The Shin & Mariko beim ESC für Georgien an. Sie verknüpfen die mehrstimmige Gesangstradition ihre Landes mit virtuosem Jazz.

So eng Georgien historisch mit den Nachbarstaaten Armenien und Aserbaidschan verknüpft sein mag, so unterschiedlich ist die Kultur des Landes. Das beginnt schon bei der gänzlich anderen Sprache, deren 33 Schriftzeichen keinen Unterschied zwischen Groß- und Kleinschreibung kennen. Und auch musikalisch haben die Georgier bis auf den Gebrauch einiger verwandter Instrumente recht wenig mit Armeniern und Aserbaidschanern gemein.

Historischer Zankapfel

Die geopolitische Lage zwischen dem persischen Reich im Südosten und dem griechischen beziehungsweise später dem römischen Reich im Westen machten die Kaukasusregion immer wieder zum Zankapfel. Im Laufe der Jahrhunderte versuchten Araber, Türken, Mongolen und mehrfach die Perser Oberhand über Georgien zu erlangen, das sich seit dem Jahr 337 zum Christentum bekennt. Nach dem Untergang des oströmischen Reichs wurde Russland zum wichtigsten christlichen Verbündeten gegen die muslimischen Türken und Perser. Doch statt wie erhofft eigenständig wurde Georgien 1801 dem Zarenreich einverleibt. Es folgte eine Periode intensiver Russifizierung, die die Entstehung einer georgischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert allerdings nicht verhindern konnte. 1918 wurde Georgien für kurze Zeit unabhängig, 1921 Teil der Sowjetunion. Seit 1991 verfügt das Land wieder über seine nationale Souveränität, die jedoch durch regionale Autonomiebestrebungen gefährdet ist.

Einzigartige Mehrstimmigkeit

Trotz dieser wechselvollen Geschichte konnte sich auf georgischem Boden eine sehr eigenständige musikalische Kultur entwickeln und bis in die heutige Zeit behaupten. Archäologische Funde belegen eine mehr als 3.000 Jahre alte Musiktradition. Einzigartig ist der mehrstimmige Gesang der Georgier, der in der Musik der Nachbarvölker unbekannt ist und von der UNESCO in die Liste der "Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit" aufgenommen wurde. Der Gegensatz zwischen Dur und Moll ist der georgischen Musik fremd. Ihr Tonsystem beruht auf der reinen Quinte, und die Abstände zwischen den einzelnen Noten entsprechen nicht dem westlichen Gebrauch, sodass die gesungenen Harmonien für europäische Ohren oft seltsam "verstimmt" klingen. In der zerklüfteten Gebirgslandschaft Georgiens entwickelten sich die mehrstimmigen Gesänge zum Teil sehr unterschiedlich, für die Region Gurien sind beispielsweise die jodelartigen Krimantschuli typisch.

Klassische Blütezeit

Unter russischer Herrschaft erleichterte die in der georgischen Musik angelegte Mehrstimmigkeit die Übernahme und Anwendung der westlichen Musiktheorie und die Entstehung einer georgischen klassischen Musik. Die Schaffung eines nationalen Kompositionsstils unter Verschmelzung der traditionellen mit der westlichen Musik gestaltete sich allerdings nicht ganz unproblematisch, weil die georgische Harmonik dem europäischen Hörer vergleichsweise spannungsarm vorkommt. Die "Europäisierung" der georgischen Volksmusik läuft im Gegenzug aber deren eigentlichem Wesen zuwider. Komponist Sachari Paliaschwili gelang dieses Kunststück jedoch so gut, dass er zu internationalem Ruhm gelangte und einige seiner Werke die Vorlage für die jetzige georgische Nationalhymne bildeten.

Übermacht westlicher Musikimporte

Gesang nimmt im georgischen Alltag noch immer einen festen Platz ein. Sei es im orthodoxen religiösen Kontext oder anlässlich festlicher Gelage, bei denen jeder Trinkspruch des Zeremonienmeisters Tamada dazu Anlass gibt, gemeinsam ein oder mehrere Lieder anzustimmen. Nach der Unabhängigkeit 1991 verdrängten westliche Interpreten die russisch dominierte Unterhaltungsmusik vom georgischen Markt. Neben elektronischen Klängen gingen vor allem Rap und R&B mit den traditionellen Musikformen eine fruchtbare Symbiose ein. Die wirtschaftlich angespannte Situation des Landes und die Übermacht westlicher Musikimporte erschweren es lokalen Künstlern allerdings, sich langfristig zu etablieren. Eine großartige Möglichkeit, sich über die musikalische Vielfalt des Kaukasuslandes zu informieren, bietet die Online-Datenbank Musik.inet.ge.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 13.05.2017 | 21:00 Uhr

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