Stand: 12.05.2014 13:22 Uhr

Volkskönigin von Europa - zehn Thesen

Um den sensationellen Zweiten des ESC, der niederländische Song, zu zitieren: Nein, Montag nach Conchita Wursts Sieg ist keine "Calm After The Storm". Privat gesprochen: Schaltet man die Infowellen vom NDR, RBB oder des MDR an, kommt der ESC als prominentestes Thema. Auffällig: Nichts wird witzig oder verwitzelnd behandelt. Sondern anteilnehmend, ernst und irgendwie beglückt.

 

2. Das ist ohnehin bemerkenswert: Anders als die mäkeligen Medien- und Publikumsreaktionen nach den Song Contests mit Guildo Horn oder Stefan Raab (Im Jahr 2000 mit "Wadde Hadde Dudde Da") wird der ESC mit dieser Siegerin nicht mokant ironisiert. Conchita Wurst ist über Nacht zur Heldin des freien und freisinnigen Europa geworden. Der übliche Mist - dass der ESC Trash, Müll, Schwulenkram oder Ironie pur sei - findet sich nicht einmal in Spurenelementen.

3. Ein leichtes Googeln hilft: Kein Blatt in Deutschland oder in anderen eurovisonären Ländern freut sich nicht mit diesem Pop-Referendum, das halb eins in der Nacht zum Sonntag endete.

Interview
Porträtaufnahme der österreichischen ESC-Teilnehmerin Conchita Wurst in Kopenhagen. © eurovision.de Foto: Martin Unger

Conchita Wurst ist "eine Lobeshymne auf die Frau"

Perücken, Drag Queens und Eltern, die voll und ganz hinter ihm stehen. Beim Interview mit Conchita Wurst am Rande der Proben in Kopenhagen geht es um Ernstes und Alltägliches. mehr

 4. Gut, dass Conchita Wurst sich während der letzten halben Auszählungsstunde ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit den Common Linnets aus den Niederlanden lieferte, nicht mit dem russischen Act. Sonst hätte es nach Kalkulation geschmeckt, man hätte annehmen müssen, dass die Österreicherin für die politischen Anliegen, gegen die der Putin-Kreml-Kreise benutzt worden wäre. Davon abgesehen waren The Common Linnets nicht minder beglückend.

 5. "Rise Like A Phoenix" ist nicht von den europäischen Schwulen und Lesben und Trans* und Inter gewählt worden. (So viele gibt es gar nicht, das nur nebenbei.) Sie hat durch das - ich trau' mich das kaum als Wort zu nutzen - tolerante Europa gewonnen. Was ihr nicht geglückt wäre, hätte sie nicht ein so gutes Lied, einen solch spektakulären Auftritt gehabt. Eine Nummer, die nur auf Homo-Verschrilltheit gesetzt hätte, wäre abgestraft worden - zurecht.

VIDEO: Österreich/Conchita Wurst: "Rise Like A Phoenix" (3 Min)

 6. Kein ESC war so politisch wie der Kopenhagener. Immer war er auch politisch, aber er wurde von der Masse der Kommentatoren nicht dafür gehalten. Dana International oder Marija Serifovic standen symbolisch auch für Kontroversen und begegneten ihnen mit Klasse. Conchita Wurst aber ist das Darling des eurovisonären Volkes.

 7. Die dank der neuen Transparenzregeln veröffentlichten Jury- und Televotingergebnisse sind eine Goldgrube für Zahlennerds. Super. Was ein ein wenig mehr als flüchtiger Blick aber sagt, ist: Conchita Wurst hätte, wenn nur die Jurys das Sagen gehabt hätten, nur knapp gewonnen. Sie hatte das Publikum hinter sich, europaweit, von Portugal über das Vereinigte Königreich bis hin zu starken positiven Reaktionen auch in Osteuropa. Für das deutsche Publikum war sie die Siegerin. Das deutet auf Hitpotential hin: Jurys kaufen keine CDs, das Publikum in Millionen hingegen oft.

 8. In der Zeitung "Die Welt" sind Reaktionen von seltsamen Politikern aus Russland zusammen getragen worden, in der taz kommt mein Kollege Ralf Leonhard zu schönen Blicken aus Wien. Dort bekam Conchita Wurst einen sehr schönen Empfang am Flughafen Schwechat. Man feiert sie - zurecht. Besser: Man feiert ihn - Tom Neuwirth. Sie wird uns daran erinnern, wie in Kopenhagen, dass sie eine Drag Queen ist, die mit Mission unterwegs ist. Das beeindruckt doch stark.

9. Der ESC ist, was die öffentliche Aufmerksamkeit anbetrifft, ist in der Mitte angekommen: als eine europäisierende Revue, bei der es um Qualität kulturell, wie gesellschaftlich, geht. Nichts hätte dem ESC auch in Deutschland besser tun können; die tiefe Zufriedenheit über das Resultat und den, nun ja, magischen Abend hat sich tief ins bisherige Ignorantemilieu in puncto ESC eingegraben.

10. Europa, das lernten wir, ist weiter, als man denkt. Die Voten zeigten - zwölf Punkte aus dem Vereinigten Königreich, Irland, Italien, der Schweiz und Slowenien -, dass da eine gewann, die für ein Europa der Freiheit steht. Politisch ist das, weil jene, die für Conchita Wurst anriefen oder eine SMS schrieben, wussten, was ihre Performance bedeutet. Eben das Beste.

Post Scriptum, 13.5.2014, 15 Uhr

Verrechnet, sorry, habe ich mich: Tatsächlich hätte Österreich auch gewonnen, wenn lediglich die Jurywertungen gültig wären. Hier stehen die entsprechenden Kolumnen vom rasenden Zahlenreporter Dambeck. Im Übrigen sind die Differenzen nicht so groß, wie in manchen Foren suggeriert wird. Und: Was die Zahlen zu Polen anbetrifft: Die hohen Werte aus Ländern wie dem United Kingdom kommen nach dem, was mir aus London berichtet wird, durch dort lebende polnischen Migranten zustande. So schimmert Europa in jedem Televotingresultat durch.

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 10.05.2014 | 21:00 Uhr