Stand: 19.05.2016 12:50 Uhr

Jamalas "1944" - Eine musikwissenschaftliche Analyse

Thorsten Hindrichs, Musikwissenschaftler am Musikwissenschaftlichen Institut der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz
Analysiert den ESC-Siegertitel "1944" nach musikwissenschaftlichen Kriterien: Thorsten Hindrichs.

Der 46-jährige Thorsten Hindrichs ist Musikwissenschaftler an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz und ist verantwortlich für das Forschungsprojekt "Musik und Jugendkultur". Für eurovision.de analysierte er vor drei Jahren bereits den deutschen Beitrag von Cascada im Hinblick auf den Plagiatsvorwurf. Jetzt hat er sich der musikästhetischen Beschaffenheit von Jamalas diesjährigem ESC-Siegertitel "1944" gewidmet. Ein Beitrag von Thorsten Hindrichs.

Standardisierter Popsong-Aufbau

Grundsätzlich gilt, dass bei Popsongs eine rein musikalisch-klangliche Analyse wenig Sinn macht, wirken doch Musik, oder besser die klangliche Ebene, Text, Bild, Inszenierung und Rezeption unweigerlich wechselseitig zusammen. Erst bei der Betrachtung des großen Ganzen lassen sich mehr oder weniger sinnvolle Bedeutungszuweisungen vornehmen. Ich konzentriere mich aber erst einmal nur auf die klangliche Ebene. Da geht es dann aber gleich auch schon los, denn mit den mir vertrauten west- und mitteleuropäischen Analysewerkzeugen komme ich nur bedingt weiter. Augen- beziehungsweise ohrenscheinlich liegt bei dem Song eine standardmäßige Popsong-Form vor mit Intro, Strophe, Refrain, Strophe, Bridge und Refrain. Abgesehen vom Intro sind alle Formteile gleich lang, mit je zweimal acht Takten. In Sachen harmonischen Gerüsts scheint alles sehr überschaubar.

Harmonisches Gerüst von "1944"
StrophenRefrainBridge
|: i | i | VI | VI | V | V | i | i :|| VI | VI | V | V | i | i | VI | VI ||: i | i | i | i :|
| iv | iv | V | V | i | i | VI | VI |

Westliche Tonart wäre äolisch auf g, umgangssprachlich g-Moll genannt. Beide Zuschreibungen sind im konkreten Zusammenhang allerdings etwas heikel.

Viel Platz für Jamalas Stimme

Jamala aus der Ukraine kniet auf der Bühne in der Stockhilmer Globe Arena. © dpa-Bildfunk Foto: Britta Pedersen
In der Komposition des Songs kommt Jamalas Stimme schön zur Geltung.

Die Besetzung ist recht spärlich gehalten, Jamalas Stimme wird also viel Platz eingeräumt. Es gibt einen recht prägnanten Basston, offenbar mit dem Synthie produziert, der die Grundtöne der je zugrunde liegenden, oktavmäßig abwärts gerichteten harmonischen Stufen markiert.

Daneben finden sich etliche Perkussionsinstrumente, sie scheinen natürlich zu klingen, die mehrere Funktionen erfüllen: Eine Rahmentrommel gibt einen regulären 4/4-Beat vor, typisch für einen Popsong. Eine zweite suggeriert synkopisch etwas versetzt ein Dreier-Metrum, was aber keines ist. Dann kommt später auch noch so ein "Tsch-tsch" auf die "Und"-Zeiten (1 und 2 und 3 und 4 und ...) hinzu, das eher nach einer menschlichen Stimme klingt. Das wirkt dann so ein bisschen off-beat-mäßig, sodass der Song rhythmisch deutlich vertrackter wirkt, als er eigentlich ist.

Interessant sind auch die zusätzlichen Stimmen, die sich als unterstützende Verstärkung für Jamala lesen lassen: In der zweiten Runde der ersten Strophe wird die Stimme gedoppelt (Studioversion vermutlich Jamala selbst), im Refrain gibt es dann noch mehr Zusatzstimmen (Backing-Chor). Die Backing-Vocals werden beispielsweise in der zweiten Strophe als Verstärkung für offenbar als relevant angesehene Textzeilen eingesetzt ("Humanity cries").

Beeindruckender Stimmausdruck

Jamala aus der Ukraine auf der ESC Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Jamalas Gesang wird eindrucksvoll von der Duduk, der armenischen Flöte, untermalt.

Ganz apart in der Wirkung: Die Bridge verharrt harmonisch die kompletten acht Takte auf der ersten Stufe (i), Jamala scheint mit ihrer Stimme ausdrucksvoll zu improvisieren, der Rest der Besetzung hat komplett Pause. Das bewirkt die volle Konzentration des Zuhörers auf den Stimmausdruck der Sängerin. Melodisch scheint sie überdies tonartfremde - orientalisch klingende - Töne einzustreuen.

Besonders auffällig ist der Einsatz der Duduk, der armenischen Flöte, die prominent nur zu Beginn und ganz am Ende (da aber nur in der Studioversion, live wird das weggekürzt) zu hören ist. In den Refrains ist sie eher kommentierend nur im Hintergrund zu hören.

Aufgepeppt wird die Instrumentierung sukzessive noch durch synthetische Streicher, besonders prominent im letzten Refrain, die wohl die fehlende Besetzung eines klassischen Mugham-Ensembles komplettieren sollen.

Das sehr im Vordergrund stehende perkussive Element des Songs scheint mir dann auch der Grund dafür zu sein, dass der Song verschiedentlich als Elektro-Pop verstanden wird. In Kombination mit dem eher bedächtigen Tempo ließe sich auch an Trip-Hop denken, wozu dann auch wieder die sehr auf emotionale Expressivität ausgerichtete Singstimme passen würde, die bemerkenswerterweise aber nicht klassisch-konventionell Pop singt, sondern ihre Melodietöne, für westliche Ohren orientalisch klingend, kontinuierlich und konsequent miteinander verschleift.

Eigenwilliger Einsatz der Duduk

In Bezug auf die Duduk ist außerdem auffallend, dass diese ganz am Anfang, in der Studioversion auch am Schluss, ausschließlich auf dem rechten Kanal zu hören ist, was dann auch an den entsprechenden Stellen die größere Dichte im Dynamikbild abbildet. Der Rest des Songs ist doch ziemlich gleichmäßig auf links und rechts verteilt.

Pegelkurven von Jamals ESC-Siegertitel "1944". © Thorsten Hindrichs Foto: Thorsten Hindrichs
Das Dynamikbild von "1944" ist auf dem linken und rechten Kanal recht gleichmäßig.

Das ist auch in der Live-Version vom ESC so zu hören. Was das Publikum in der Live-Version jedoch deutlich weniger gut hört als in der Studioversion ist die räumliche Verteilung der Singstimme, die in der Studioversion sukzessive von der räumlichen Mitte immer weiter nach oben wandert beziehungsweise gemischt wird. Vor allem der expressive Schrei am Ende der Bridge ist extrem weit oben zu hören. Wer sich die Studioversion auf dem Kopfhörer anhört, dem fällt auch eine zunehmende räumliche Breite im Mix auf: Die kommentierende Duduk in der zweiten Strophe kommt beispielsweise von noch weiter rechts als sie zuvor zu hören war. Ob der Zuhörer da nun die "Weite der Steppe" heraushören, kann liegt wohl an der individuellen Fantasie.

Song in Mugham-Tradition

Jamala hat selbst mehrfach darauf hingewiesen, dass sie den Song in der Tradition von Mugham verortet hat, was keine Gesangstechnik ist, sondern eine aserbaidschanische Tradition der musikalischen Gestaltung, insbesondere in melodischer, modaler (tonartlicher) und formaler Hinsicht. Die "scheinbare" Improvisation beruht in Mugham auf recht fixen Konventionen und auch die Frage des Modus lässt sich mit westlichen Modus-Theorien nur unzureichend erfassen, weswegen äolisch auf g beziehungsweise g-Moll streng genommen verfälschend ist. Vermutlich handelt es sich um den Modus Bayaty-Shiraz. Zu Mugham passt dann aber natürlich auch die Duduk, die diversen Rahmentrommeln und die synthetischen Streicher. 

Spätestens hier sind wir nun aber an dem Punkt, der eine rein klanglich-musikalische Analyse mit Blick auf Deutungsmöglichkeiten stark verkürzt, denn klanglich-musikalisch klingt der Song nach Südosteuropa oder Vorderasien, was wiederum auf das Sujet Krimtataren verweist, sodass in der Verknüpfung musikalische Tradition und Krimtartaren dem Song auch auf klanglich-musikalischer Ebene eine im weitesten Sinne politische Bedeutung zugeschrieben werden kann, die in enger Wechselwirkung mit Text, Bild, das zugehörige Video ist weit weniger neutral als der Auftritt beim ESC, Inszenierung und Rezeption steht.

"Mein Song ist ganz und gar nicht politisch gemeint", Jamala das zu glauben, fällt schon nach der oberflächlichen klanglich-musikalischen Analyse des Songs schwer, es sei denn, Jamala wäre deutlich naiver als sie sich in den einschlägigen Interviews gibt.

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 14.05.2016 | 21:00 Uhr

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