Respekt vor der deutschen Jury, bitte!
Zugegeben, zunächst war ich etwas enttäuscht, dass aus Deutschland für Conchita Wurst - gemessen an anderen Wertungen - nur sieben Punkte kamen. Und das lag an dem Juryvotum. Das Publikum hat per Televoting die Österreicherin zu seiner Nummer eins gewählt. Tatsächlich war das keine Jury, die grandprixesk zusammengesetzt war, sondern eine, die einem ziemlich repräsentativen Querschnitt des momentanen Geschehens des deutschen Pop nahekam. Aber in einem grundsätzlichen Sinne muss man sagen: Conchita Wurst ist eine Erscheinung, aber keine Religion. Sie mag die politisch korrekteste Performance für das Selbstverständnis des west- und nordeuropäischen Bewusstseins gewesen sein, gepaart mit exzellentem Auftritt, tollem Lied und einem Moment von Magie.
Jurys verhindern Blockwertungen
Die Jurys aber sind vor einigen Jahren wieder ins Leben gesetzt worden, um den Nachbarschafts- und Blockwertungen (Balkan, Post-Sowjetunion, Skandinavien) ein popmusikalisches Korrektiv entgegenzusetzen. Das war, nach einigen Jahren Erfahrung, eine gute Entscheidung, keine schlechte. Es hat vielen guten ESC-Künstlern genützt, dass da Fachjuroren noch ein Wörtchen mitreden - auch Roman Lob 2012, Roger Cicero 2007 oder jetzt Elaiza 2014.
Die fünf Männer und Frauen aus der deutschen Jury haben gewertet, so gut sie es vermochten. Und was auch immer man über ihre Urteile denkt: Sie haben ihr Werk verrichtet. Und das verdient Respekt. Sonst wäre die Stimme des sogenannten Volkes so sakrosankt, so verheiligt, wie ich es nicht gern hätte (und habe). Jennifer Weist (Jennifer Rostock), Madeline Juno, Konrad Sommermeyer, Sido (Paul Würdig) und Andreas Bourani mögen nur begrenzt die Lieblinge der queeren Szene sein, aber sie stehen, ausweislich ihrer Charterfolge, für das, was Pop in Deutschland momentan im Mainstream ist. Und Conchita Wurst kann Teil dieses Mainstreams werden, aber das ist Zukunftsmusik; sie war es jedenfalls Donnerstag beim 2. Semi und Samstag beim Grand Final nicht.
Respekt auch für die Urteile der Jury
Wenn Conchita Wurst programmatisch Respekt und Toleranz fordert, so ist dieser Wunsch richtig und gut - gilt aber natürlich für alle. Auch für die Urteile der Jury. Für die erst recht. Wer sich über eine Jury beschwert, wenn sie nicht wunschgemäß abstimmte, will in Wirklichkeit keine, sondern folgt einer totalitären Logik - und die ist vollkommen inakzeptabel. Okay, mir leuchteten auch bestimmte Sichtweisen des Quintetts nicht ein, aber allein für den Umstand, dass Sido (Paul Würdig) im 2. Semifinale Georgiens Act von The Shin & Mariko auf den ersten Platz setzte, verdient er auch stärkste Anerkennung: Da hat einer sich antörnen lassen von fremden, nicht so geläufigen Tonspuren - und diese mit seinem ersten Platz belohnt.
Die Proteste gegen die Jury, angeführt von Fans und der "Bild-Zeitung", mögen emotional gesinnt sein. Die "Bild-Zeitung" folgt ihrer stets demokratietheoretisch gehässigen Logik, sich auf die Seite enttäuschter Gefühle, des sogenannten Volkes, zu stellen. Das war, das ist übel und gefährlich. Es bringt in Misskredit, was unbedingt zu wertschätzen ist: die abweichende Meinung. In Kopenhagen dachte ich noch, für eine deutsche Jury wäre jemand gut gewesen, der oder die aus dem populistischen, also beispielsweise aus dem Schlagerfach kommt.
Ärger bereits 2013
Ärger wegen der Jury gab es schon bei der Vorentscheidung in Hannover 2013. Damals grölte auch alle Welt, wie konnten die nur LaBrass Banda nach hinten werten - und so Cascada das Ticket nach Malmö verschaffen. Vielleicht war das sogar ungerecht oder doof oder misslich: Doch Respekt vor allen, die nicht gleich mitgrölen beim angeblich Angesagten, ist das Beste, was aktuell wichtig ist. Das läge, wie erwähnt, auch im Sinne der Siegerin aus Österreich - es miteinander und einander auszuhalten, auch wenn es einem fremd vorkommt. Ich finde inzwischen das deutsche Juryvotum richtig gut. Oder selbst wenn es nicht so wäre: Sie haben das Ihrige getan, um ein Urteil nach eigenem Gewissen und Dafürhalten zu fällen. Ist doch keine Alle-machen-bei-allem-gleich-mit-Veranstaltung.
Thomas Schreiber, Unterhaltungskoordinator der ARD, deutscher ESC-Chef und mitverantwortlich für die Transparenzregeln der EBU beim ESC, teilte mit: "Nicht akzeptabel ist indes die Art und Weise, wie in sozialen Netzwerken sowohl die Siegerin Conchita Wurst als auch unter anderem deutsche Jurymitglieder behandelt werden. Eine Drohung bei Facebook gegen die ESC-Gewinnerin ist ebenso wenig hinzunehmen wie das unflätige Beschimpfen der deutschen Jurymitglieder für ihre Wahl." Richtig geurteilt!