Stand: 26.04.2015 09:00 Uhr

ESC-Rückblick: Wachsende Osteuropäisierung

Marie N (bürgerlich Marija Naumova) 2002 bei der Generalprobe zum Grand Prix. Sie vertrat Lettland und belegte den 1. Platz  Foto: Carsten Rehder
Lettland feierte 2000 sein ESC-Debüt. Bereits zwei Jahre später konnte Marie N den ersten Sieg für das Land einfahren.

Die politischen Mauern waren weitgehend gefallen, die Intervision, die Senderkette der sozialistischen Länder, aufgelöst, und die Verantwortlichen des ESC ahnten zumindest, dass ihr Festival entweder stirbt oder größer werden wird. Mehr und mehr jener Länder, die entweder hinter dem Eisernen Vorhang lagen oder zum aufgelösten Jugoslawien zählten, wollten bei dem Wettbewerb mitmachen. Bis 2003 - dem ESC in Riga - gab es einen komplizierten Modus, um Jahr für Jahr die gut zwei Dutzend Länder zu bestimmen, die mitmachen durften.

Jene Länder, die wegen schlechter Platzierungen eine Saison lang pausieren mussten, klagten immer wieder: Wenn wir aussetzen, riskieren wir insgesamt das Interesse an diesem Event. Kein Zuschauer guckt sich dieses Ding an, ohne einen Kandidaten aus dem eigenen Land dabei zu haben. Russland, die Slowakei, Rumänien, Polen, Estland oder Litauen machten meistens mit, aber nicht immer. Gelegentlich mussten selbst Länder wie die Niederlande oder Dänemark pausieren.

Qualifikationsregeln wurden überdacht

Leon beim deutschen Vorentscheid 1996 © NDR
Nachdem der Deutsche ESC-Kandidat Leon es nicht ins Finale schaffte, wurden die ESC-Regeln überdacht.

Die ESC-Funktionäre mussten tätig werden, und als Erstes beschlossen sie, dass bestimmte Länder auf jeden Fall mitmachen dürfen, ohne jede Vorqualifikation. Das war fällig nach dem ESC 1996 in Oslo, als Deutschland (mit dem bedauernswerten Leon und seinem "Blauen Planeten") zwischen Vorentscheidung und Grand Final doch noch ausgesiebt worden war. Die ARD übertrug damals nicht live im Ersten. Die norwegischen Organisatoren von NRK waren erbost, weil die Sponsoren erzürnt waren: Das zahlungskräftigste Land der European Broadcasting Union fehlte als Markt - das war nicht akzeptabel.

Ab 1997 bekamen Großbritannien, Frankreich, Spanien und Deutschland den Big 4-Status zuerkannt: Groß und zahlungskräftig und sicher im Finale. Das wiederum erfreute Länder wie Schweden nicht, aber die Regel ist bis heute gültig, nur dass inzwischen auch Italien zu den finalgesetzten Ländern gehört. Wer am meisten zahlt, darf sicher sein, das Finale mit eigenen Kandidaten übertragen zu können.

Weitere Reformen folgten

Andere Reformen kamen in diesen Jahren hinzu - von 1996 an begann die Modernisierung des ESC. 1999 gab es kein Liveorchester mehr. Wer beim ESC antrat, musste live singen, bekam aber die Musik im Playbackverfahren geliefert. Das sollte Kosten sparen, vor allem aber ermöglichte es modernen Pop-Produzenten, eigene Vorschläge zum ESC beizutragen. Die allermeisten Sounds waren durch ein Orchester nicht mehr zeitgenössisch herzustellen: Man wollte per Konserve das Bestmögliche zu Gehör bringen. Obendrein wurde während dieser Jahre die seit 1976 geltende Sprachregel abgeschafft: Es war nicht mehr Pflicht, in der jeweiligen Landessprache zu singen. Es konnte auch jede andere - meist Englisch - sein.

Sertab Erener beim Grand Prix d'Eurovision 2003 © dpa - Fotoreport Foto: Ulrich Perrey
Profitierte von der reinen Zuschauerwertung: Sertab Erener holte 2003 in Riga für die Türkei den ESC-Sieg.

Schließlich, viel gewichtiger: Das Televoting entmachtete die Jurys der Länder. 1997 begannen Deutschland, Österreich, die Schweiz, Schweden und Großbritannien mit reinen Zuschauerwertungen. Das Regime der Experten stand einer Popularisierung im Wege - und technisch war das durch Telefonanrufe und SMS-Wertungen möglich. Wichtigste Profiteurin dieser Regeländerung war der türkische Superstar Sertab Erener. Sie wollte 2003, so teilte sie dem türkischen Sender TRT mit, ohnehin nur antreten, wenn sie in Englisch singen dürfe, sonst hätte sie ja keine Chance. Die TRT-Leute waren empört, konnten aber gegen die Macht der Sängerin nicht an. Man erlaubt es ihr. Der Ertrag war immens: 2003 konnte die Türkei erstmals beim ESC triumphieren - und das mit einer Danceformation, die aus Wien stammt.

Und auch noch skurril: Einige Acts kamen auch mit Kunstsprachen daher, etwa die Belgier von Urban Trad im Jahre 2003, die ihr Lied "Sanomi" in einem erfundenen Idiom vortrugen. Ihr Lohn: ein zweiter Platz. Offenbar kommt es auf Sprachliches nicht besonders an.

Event europäischen Kalibers

Der ESC selbst war auf dem Wege, zu einem Event europäischen Kalibers zu werden. Was einmal eine Show über die nationalen Grenzen hinweg war, wurde seitens der EBU offensiv als Kern des eurovisionären Entertainments beworben. Die Marke "Eurovision Song Contest" wurde intensiv promotet und nicht mehr wie ein peinliches Stiefkind im europäischen TV-Kalender behandelt: inklusive Merchandising und einer seit dem Jahre 2000 veröffentlichten CD (später plus DVD) mit allen Festivalliedern. Als Höhepunkt darf man den ESC 2001 in Kopenhagen nehmen: Ausgetragen wurde er in einem Fußballstadion, das eigens für den ESC mit einer faltbaren Textilkonstruktion überdacht wurde. Mehrere Zehntausend Zuschauer fanden darin Platz.

Dana International vertritt 1998 Israel beim Grand Prix und freut sich über den 1. Platz © dpa Foto: DB pool
Ihr Sieg war eine Sensation: Die Transsexuelle Dana International ersang sich 1998 den ersten Platz.

Auffällig war, dass nur wenige echte Hits aus diesen Jahren hervorgingen, am stärksten die Olsen Brothers mit ihrem "Fly On The Wings Of Love". Und: der queere Aspekt kam erstmals krass zum Vorschein. Dana International gewann 1998 den ESC mit "Diva" und schenkte der LGBTI-Community weltweit eine Performance - die erst von Conchita Wurst voriges Jahr übertroffen werden konnte. Die, wenn man so will, erst offen schwule Performance war doch die des Isländers Páll Óskar, der 1997 mit "Minn hinsti dans" (zu Deutsch: Mein letzter Tanz) einen 20. Rang erreichte.

Und: Mit Estland und Lettland hatten in dieser Zeit erstmals zwei Länder gewinnen können, die bis zum Fall des Eisernen Vorhangs zur Sowjetunion gehörten.

Meine Top Ten - 1997 bis 2003

  1. Danijela: "Neka mi ne svane" (Kroatien 1998, 5. Platz)
  2. Mélanie Cohl: "Dis oui" (Belgien 1998, 6. Platz)
  3. Maarja-Liis Ilus: "Keelatud maa" (Estland 1997, 8. Platz)
  4. Dino & Beatrice: "Putnici" (Bosnien und Herzegowina 1999, 7. Platz)
  5. Alma Lusa: "Se eu te pudesse abraçar" (Portugal 1998, 12. Platz)
  6. Brainstorm: "My Star" (Lettland 2000, 3. Platz)
  7. Marlayne: "One Good Reason" (Niederlande 1999, 8. Platz)
  8. Michelle: "Wer Liebe lebt" (Deutschland 2001, 8. Platz)
  9. Sertab Erener: "Everyway That I Can" (Türkei 2003, 1. Platz)
  10. Águst & Telma: "Tell Me!" (Island 2000, 12. Platz)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 18.05.1996 | 21:00 Uhr