Stand: 17.03.2014 13:14 Uhr

"Betet für die Ukraine"

Das Faszinierende am Eurovision Song Contest ist, dass er - obwohl er "nur" eine Unterhaltungssendung ist - Menschen dazu bringt, über Europa nachzudenken. Wer sich für die größte Musikshow der Welt interessiert, kommt nicht darum herum, sich auch mit politischen Fragen auseinanderzusetzen. Denn ein Länderwettkampf kann niemals völlig unpolitisch sein. Der ESC prägte über die Jahre die Wahrnehmung des Kontinents - von den sieben westeuropäischen Kernstaaten, die1956 in Lugano den ersten Wettbewerb unter sich ausmachten, bis zum Teilnehmerrekord von 2008, als 43 Länder um den Grand Prix kämpften. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs sind plötzlich Länder in unser Blickfeld gerückt, die während des Kalten Krieges in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Beachtung fanden oder zu diesem Zeitpunkt als souveräne Staaten noch gar nicht existierten.

Politik nach Punkten

Die ukrainische ESC-Teilnehmerin Mariya Yaremchuk © Mariya Yaremchuk
Dieses Jahr geht die Ukraine mit Maria Yaremchuk und dem selbstgeschriebenen Song "Tick-Tock" an den Start. Ob es dafür auch Punkte von Russland gibt?

Mit einem Schlag war das geografische Vakuum zwischen Ostsee und Mittelmeer mit Liedern gefüllt, die uns Eindrücke von einer Welt gaben, die uns bis dato völlig fremd war. Und Jahr für Jahr wuchs mit dem Songrepertoire des ESC auch das geteilte Europa Stück für Stück zusammen. Was nicht bedeutet, dass der Eiserne Vorhang auch aus den Köpfen verschwunden war, denn der Vorwurf osteuropäischer Punkteschiebereien war immer auch eine paranoide Zwangsvorstellung der Generation Kalter Krieg. Von den Ländern im Osten wussten wir wenig, oft nur das, was wir in James-Bond-Filmen gesehen hatten, und so spiegelte die Kritik an der "politischen" ESC-Wertung allzu oft nur antikommunistische Vorurteile. Für die komplexe ethnische und kulturelle Situation in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion gab es dagegen kaum ein Bewusstsein.

Ukraine vs. Russland - nanu?

So verwundert es nicht, dass man vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts in der Ukraine immer wieder Tweets der folgenden Art liest: "Ich frage mich, ob der Krieg zwischen Russland und der Ukraine etwas am Block-Voting beim #Eurovision Song Contest ändern wird." Für viele Fans sind die Feindseligkeiten zwischen den beiden Brudervölkern eine Überraschung: Hat man sich sonst nicht immer fleißig die Punkte hin- und hergeschoben? Und jetzt steht man einander mit Waffen gegenüber? Dabei müssten treue ESC-Fans mittlerweile festgestellt haben, dass politische Konflikte und kulturelle Nähe einander nicht ausschließen: 2004, nicht einmal zehn Jahre nach den Jugoslawienkriegen mit ihren grausamen Massakern, bedachten Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Slowenien den Beitrag Serbien-Montenegros mit der Höchstpunktzahl. Politisch gab es dafür keinerlei Anlass. Kulturell schon.

Kulturelle Bindungen

Ähnlich ist die Situation auch zwischen Russland und der Ukraine. Beide Länder verbindet eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte. Dennoch wurde die lokale ukrainische Kultur, die von den benachbartenPolen und Litauern beeinflusst war, im Zarenreich Russland und später in der Sowjetunion gewaltsam unterdrückt, um den Zusammenhalt des Riesenreiches nicht zu gefährden. Erst nach dem Zerfall der Sowjetunion konnte sich das kulturelle Leben in der Ukraine so entfalten, wie wir es aus den Nationalstaaten Westeuropas kennen. Doch für die Künstler, die in der nun souveränen Ukraine lebten, blieb Russland ein wichtiger Absatzmarkt, ebenso wie das ukrainische Publikum russischen Interpreten wie Alla Pugatschowa zujubelte, die schon zu Sowjetzeiten Stars waren.

Probleme für ukrainische Künstler

Die aktuelle Situation stellt die ukrainische Musikerszene vor eine schwere Herausforderung. Wer sich, wie die populäre Rockgruppe Okean Elzy, zu den Zielen der Maidan-Bewegung bekennt, riskiert, dass Konzerte in Russland abgesagt werden. So hat der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei, Wladimir Schirinowski, erklärt, dass "Tourneen ukrainischer Bands, die ausdrücklich anti-russische Positionen beziehen, nicht mehr gestattet werden sollen". Schon Verka Serduchka, die sich 2007 mit ihrem als "Lasha Tumbai" getarnten "Russia Goodbye" weit aus dem Fenster gelehnt hatte, bekam im Anschluss an ihre ESC-Teilnahme keine Auftrittsangebote mehr aus Russland und anderen ehemaligen Sowjetrepubliken. Das hält Künstlerinnen wie Ruslana, die ukrainische ESC-Gewinnerin von 2004, nicht davon ab, sich öffentlich gegen die Politik Wladimir Putins auszusprechen: "Vielen Dank an die Diktatur der ehemaligen Sowjetunion. Wir haben sie jetzt überwunden. Wir haben uns für die Demokratie entschieden, für eine Zukunft nach neuen Regeln."

Gespaltene Meinungen

Doch es gibt auch andere Stimmen: Die populäre Sängerin Taisia Povaliy ist eine glühende Unterstützerin Wiktor Janukowitschs und saß für seine Partei sogar als Abgeordnete im Parlament. Sie soll nach Auskunft des Ukraine Crisis Media Center - einer Einrichtung, die von dem Consulting-Unternehmen CFC mit ins Leben gerufen wurde, das für die Organisation des Eurovision Song Contests in Kiew2005 mitverantwortlich war - das Land verlassen haben und nun ihre Karriere von Russland aus fortsetzen. Die Großmütter der Buranovskije Babuschki, die Zweitplatzierten von2012, haben unterdessen in einem offenen Brief die harte Haltung Putins unterstützt, obwohl sie als Angehörige der udmurtischen Minderheit in Russland über viele Jahre selbst unterdrückt waren. Die meisten Künstler ergreifen allerdings keine Partei, sondern hoffen auf eine friedliche Beilegung des Konflikts. So bat Anastasija Prichodko, die 2009 den russischen Beitrag "Mamo" in russischer und ukrainischer Sprache vortrug, auf ihrem Facebook-Account die Fans gleich in elf Sprachen: "Betet für die Ukraine".

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 10.05.2014 | 21:00 Uhr

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