TikTok ist "Entertainment Partner" des Eurovision Song Contest 2023
Als die Europäische Rundfunkunion TikTok als offiziellen "Entertainment Partner" für den Eurovision Song Contest 2023 in Liverpool bekannt gab, hielt sich das Medienecho in Grenzen. Ein Kommentar von Irving Wolther.
Nachdem die chinesische Videoplattform schon im vergangenen Jahr exklusiven Backstage-Content für ihre weltweit rund 1,5 Milliarden Userinnen und User bereitstellen durfte, war die Erneuerung des Pakts zwischen Europäischer Rundfunkunion (EBU) und dem TikTok-Mutterkonzern ByteDance den wenigsten Medien eine Schlagzeile wert. Bis auf zwei kritische Artikel im Branchenmagazin "Musikwoche" und bei ESC kompakt raschelte es kaum im deutschen Blätterwald. Das ist bedauerlich, denn für Journalistinnen und Journalisten gäbe es an dieser Entscheidung einiges zu hinterfragen.
TikTok als reichweiten- und finanzstarker Partner
Es gibt gute Gründe für die EBU und die britischen Gastgeber, sich für TikTok als reichweiten- und finanzstarken Partner zu entscheiden. Zum einen ist den Veranstaltern daran gelegen, dass der ESC auch in Zukunft die meistgesehene Fernsehunterhaltungsshow der Welt bleibt. Insofern ist die Einbindung einer Social-Media-Plattform, die von weltweit etwa 70 Prozent der unter 25-Jährigen genutzt wird, eine strategisch kluge Entscheidung, um die Marke ESC bei einer Generation zu verankern, die nicht mit dem klassischen Grand-Prix-Käseigel sozialisiert worden ist. Zum anderen ist davon auszugehen, dass TikTok für diese Partnerschaft relevante Summen bereitstellt, die dafür eingesetzt werden, den ESC stellvertretend für die Ukraine im Vereinigten Königreich auszurichten.
Finanzspritze ermöglicht Touristenangebote
Da Liverpool - ähnlich wie Berlin - der Ruf vorauseilt, sexy aber arm zu sein, kann sich die lokale Tourismusbehörde "Visit Liverpool" nicht nur über die Finanzierung einzelner Veranstaltungen wie des "Eurovision-Legends"-Konzerts freuen, sondern auch über kostenlose Promotion durch einen eigenen TikTok-Guide in der App. Auf der Website des Liverpool City Council finden sich Tipps und Tricks, wie lokale Unternehmen dank TikTok möglichst viel von den herbeiströmenden Besuchermassen profitieren können. So hofft die von den Folgen der COVID-19-Pandemie arg in Mitleidenschaft gezogene heimische Wirtschaft, sich durch den ESC nachhaltig zu erholen, wie Prolific North berichtet. Aus Sicht der Gastgeber ist die Partnerschaft mit TikTok also durchaus zu begrüßen.
Exklusiver Probencontent nur noch für TikTok-User
Auch für die EBU und ihre Mitglieder birgt der Deal jede Menge Vorteile, denn die Fokussierung auf einen "Entertainment Partner" bedeutet, dass sich leichter kontrollieren lässt, welche Inhalte vorab veröffentlicht werden und welche nicht. In der Vergangenheit fühlten sich Künstler und Delegationen durch die schonungslose Online-Kommentierung des Probengeschehens oft unter Druck gesetzt. Ab sofort gibt es für niemanden mehr die Möglichkeit, bei den Proben Mäuschen zu spielen - außer für TikTok. Einzige Ausnahme: Von den Proben des eigenen Acts dürfen die jeweiligen Sender berichten. Dass dies bei der Fangemeinde Unmut auslöst, weil es dem Motto des diesjährigen ESC "United by Music" hohnspricht, ist nachvollziehbar, aber für die EBU irrelevant: Den exklusiven Backstage-Content gibt es ja schließlich weiterhin, nur dass er jetzt noch mehr Leute erreicht und volle Kontrolle darüber herrscht, wer damit Geld verdient.
Hierin liegt allerdings der eigentliche Knackpunkt, denn die EBU ist der Dachverband der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa (und darüber hinaus). Ihre Mitglieder, die nationalen TV- und Radiosender, werden durch Gebühren und Steuergelder finanziert. In vielen Ländern gibt es darüber hinaus weitere Einnahmequellen wie Werbung, mit denen die Unabhängigkeit des öffentlich-rechtlichen Systems sichergestellt werden soll, falls Regierungen drohen, Gelder zu kürzen, weil nicht in ihrem Sinne berichtet wird (was sich aktuell in vielen Ländern zu einem wachsenden Problem entwickelt). Allerdings sind diese Einnahmequellen streng voneinander zu trennen, damit öffentliche Gelder nicht für private Interessen ausgegeben werden.
Preisgabe persönlicher Daten in der Kritik
Es spricht also nichts dagegen, dass TikTok als Sponsor Veranstaltungen rund um den ESC finanziert und damit Werbung für sich macht. Anders sieht die Sache allerdings mit der Probenberichterstattung aus, denn was beim ESC vor und hinter der Bühne passiert, ist Sache der Fernsehanstalten - und die arbeiten im Auftrag und mit dem Geld ihrer Zuschauerinnen und Zuschauer. Es ist völlig legitim, exklusiven Backstage- und Proben-Content auf den Plattformen der EBU und der nationalen Fernsehanstalten zu veröffentlichen und im Gegenzug die Möglichkeiten von Influencern und Fanblogs einzuschränken. Hierfür die Plattform eines kommerziellen Drittanbieters zu wählen, deren Nutzung eine Registrierung und damit die Preisgabe persönlicher Daten erfordert, mit denen zielgerichtete Werbung geschaltet werden kann, ist dagegen problematisch.
Can you hear me go "TikTok"…?
Wir alle wissen, dass Daten die Währung sind, mit der Nutzerinnen und Nutzer im Internet "kostenlose" Angebote bezahlen müssen. Durch den exklusiven Deal mit TikTok gibt es für ESC-Interessierte keine andere Möglichkeit mehr, als sich beim offiziellen "Entertainment Partner" einzuloggen, um Content zu sehen, der aus Gebühren- und Steuergeldern finanziert wird. Also: kein TikTok-Account - keine Inhalte. Aus medienrechtlicher Sicht ist dies zumindest eine Grauzone. Nahezu zeitgleich kündigte britische Parlament an, TikTok wegen massiver Sicherheitsbedenken in Netzwerken und auf Endgeräten staatlicher Einrichtungen nicht länger zuzulassen. Die von der EBU enthusiastisch verkündete TikTok-Partnerschaft liefert vor diesem Hintergrund ungewollt eine Steilvorlage für all diejenigen, die öffentlich-rechtlichen Angeboten ohnehin kritisch gegenüberstehen.
ESC stellt Mitgliedsländer vor herausfordernde Finanzierungsfragen
Jetzt auf die EBU und ihre Entscheidungsträger einzudreschen, den "Ausverkauf des Wettbewerbs" zu beklagen und den ESC-Spirit symbolisch zu Grabe zu tragen, trifft allerdings nicht den Kern der Sache. Den wenigsten Zuschauerinnen und Zuschauern ist bewusst, welchen Bedrohungen der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausgesetzt ist, und zwar in ganz Europa. Der erforderliche Aufwand für die Durchführung dieser Mammutveranstaltung lässt sich nur gemeinsam stemmen. Doch was tun, wenn immer mehr Mitgliedern das Geld fehlt, um selbst ihrer täglichen journalistischen Arbeit nachzugehen? Künftig könnten immer mehr Länder auf eine nationale Vorentscheidung oder im schlimmsten Fall sogar auf eine ESC-Teilnahme verzichten.
Verantwortung des öffentlich-rechtlichen Rundfunksystems
Es sind schwierige Abwägungen, die hier zu treffen sind. Und es ist gar nicht so einfach, finanzkräftige Partner zu finden, wenn man sich nicht gerade durch die Tabak- oder Spirituosenindustrie sponsern lassen möchte. Aber sind chinesische Datenkraken für die europäische Jugend nicht eine ebenso große Bedrohung wie Zigaretten und Alkohol? Und sollte es nicht zu den Leitsätzen des öffentlich-rechtlichen Systems gehören, dass es seine Nutzerinnen und Nutzer vor Datenausspähung und ähnlichen Gefahren schützt? Dass es sie diesen Gefahren zumindest nicht sehenden Auges ausliefert? Die EBU wollte im vergangenen Jahr die weiteren Entwicklungen um TikTok aufmerksam beobachten. Diese Aufmerksamkeit ist auch weiterhin dringend geboten, damit sich "TikTok" nicht am Ende als das Ticken einer Zeitbombe erweist.