Ein Tessiner nach Kopenhagen
Ein junger Mann aus der Nähe Bellinzonas im schweizerischen Kanton Tessin wird die Eidgenossen in Kopenhagen vertrete: Natürlich, zunächst im zweiten Halbfinale am 8. Mai, hoffend, dass es für das Grand Final reicht.
Ausflug für einen Juristen?
Um es gleich vorweg zu nehmen: Gewonnen hat der unprätentiöseste Titel des Abends. Sebalter, wie der Künstler sich nennt, pfeift, man hört im Arrangement seines Liedes namens "Hunter Of Stars" ein Banjo - alles in allem drängt sich eine zarte Erinnerung an den maltesischen Beitrag vom vorigen Jahr auf. Das hat etwas Erfrischendes; das Lied nervt weder durch Schwere, noch durch allzu starke Luftigkeit. Optisch ließe sich sagen, Sebalter, der als sechster der sechs Kandidaten aufzutreten hatte, wirkte kurz vor halb zehn am Abend wie ein Weckruf: Ja, Musik darf auch ohne tragödische Allüren (wie Emmelie de Forest) oder sphärische Discodarreichungen (Loreen) daherkommen. Zunächst war ich skeptisch: Wäre es gut für die Schweiz, wenn ein - wenn ich das richtig verstanden habe - berufstätiger Jurist, der also sich nicht ganz und gar der Kunst verschrieben hat, in Kopenhagen singt? Würde er es nicht hauptsächlich als Ausflug nehmen?
Der Ernst der Lage wurde in der Show aus Kreuzlingen ja deutlich in einem Einspielfilmchen umrissen: Die Schweiz war in den ersten ESC-Jahren nicht schlecht, hat zweimal gewonnen, mit Lys Assia und Céline, landete 14 Mal in den Top 10 eines ESC. Das aber nicht in den vergangenen Jahren - man kam nicht einmal ins Finale, und wenn doch, dann landete man ganz weit hinten.
Zwischen Chiara, Hera und Buranowski Babuschki
Die fünf Acts, die nicht gewonnen haben, müssen sich enttäuscht fühlen, aber sie sollten sich trösten: Ihr Material war vielleicht doch eine Spur weniger gut als das des Siegers Sebalters. Dem Sieger am nächsten kam die in Köln lebende Yasmina Hunzinger, die Chiara aus Malta als eine ihrer ESC-Idole ausgab - und tatsächlich wie diese mit einer gehörigen Portion Hera Björk aussah. Nein, das war tapfer und bemüht, aber nicht sehr originell. Auch das Trio 3forAll war nicht so übel, aber: Die sahen so schrecklich übererwachsen und sauber aus. Zwei Frauen weit jenseits des Teenageralters, ein Mann, der prima performte: Aber weiß man beim Sender SRG nicht, dass in den vergangenen Jahren - sagen wir bis auf die russischen Omas - immer nur sehr junge Kandidaten ganz vorne endeten? Und wenn sie schon jung sind wie die Frankoschweizerinnen Nathalie & Stéphanie: Weshalb dann so bieder?
Überflüssiges Schwelgen in Nostalgie
Überhaupt: Dass die Kandidaten bei dieser schweizerischen Vorentscheidung neben ihrem Lied auch noch ein anderes zu singen hatten, einen Oldie, einen Evergreen, einen Klassiker, war ja nicht grundsätzlich von Fragwürdigkeit. Aber wenn man von den sechs Aspiranten schon die Lieblings-ESC-Lieder abfragt - immer wieder schön: nostalgische Ausschnitte aus früheren Jahren -, dann sollten sie sie auch singen können. Man wusste gar nicht, warum sie dieses Zusatzmaterial ohne ESC-Belang noch abzuliefern haben. Um die Sendung zu strecken etwa? Man will es nicht hoffen.
Es war eine typische ESC-Show. Mit Windmaschine, einem korrekten Moderator, einem stetig am Rande des Hysterischen kreischenden und applaudierenden Publikums und sechs Liedern, die - inklusive "Hunter Of Stars" - keine ästhetischen Horizonte überschritten. Sie blieben doch alle konventionell. Sebalter ist eine okaye Wahl. Aber gibt es in der Schweiz nicht Independent-Szenen, nicht Musiker, die über den Tellerrand gucken, ästhetisch, künstlerisch, sängerisch? Oder junge Talente, die Material kennen, wie es in Berliner Clubs gespielt wird? Ist die eidgenössische Welt denn wirklich so klein?