Die Türkei beim ESC: Chronik einer Eiszeit
Dass die Türkei auch 2017 nicht am Eurovision Song Contest teilnehmen wird, dürfte die wenigsten Beobachter überrascht haben - nicht zuletzt angesichts der jüngsten politischen Entwicklungen in dem Land. Einen offiziellen Grund für die Nichtteilnahme in Kiew ließ der staatliche Fernsehsender TRT zwar nicht verlauten, doch für viele scheint es auf der Hand zu liegen, dass Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan wieder einmal ein Machtwort gesprochen hat. Zumal 2014 ein Tweet von TRT-Direktor Senol Göka darauf hindeutete, dass der Sender gar nicht abgeneigt wäre, wieder in den Wettbewerb einzusteigen. Wohlgemerkt nach dem Sieg von Conchita Wurst, deren Auftritt diverse konservative Politiker dazu verleitet hatte, den endgültigen Rückzug der Türkei aus der Eurovisions-Familie zur beschlossenen Sache zu erklären.
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1975 ist Semiha Yanki die erste Künstlerin, die die Türkei beim ESC vertritt. Es ist auch die erste Teilnahme des Landes überhaupt. Yanki landet auf Platz 19, dem letzten Rang in jenem Jahr.
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Doch auch die zweite Teilnahme ist nicht sehr viel erfolgreicher: So singt sich die Gruppe "Nazar" 1978 lediglich auf den vorletzten Platz.
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Während die Musiker, die beim ESC für die Türkei antreten, in ihrem Land als große Stars gelten, können sie im internationalen Wettbewerb kaum überzeugen: Die bekannte türkische Sängerin Aida Pekkan geht beispielsweise 1980 für die Türkei ins Rennen und belegt in Den Haag den 15. von 19 Plätzen.
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In der Zwischenzeit schafft es die Türkei nur zwei Mal in die Top Ten. Erst 2003 wendet sich das Blatt. Sertab Erener gelingt es, den ESC zum ersten Mal nach Istanbul und damit in die Türkei zu holen.
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Dort überzeugt die türkische Ska-Band "Athena" das internationale Publikum. Sie holt mit "For Real" den stolzen vierten Platz. Eine Glückssträhne beginnt, die vorerst anhalten soll, ...
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... denn fortan kann die Türkei einen Top-Ten-Erfolg nach dem anderen feiern. Auch Sängerin Hadise landet beim ESC 2009 mit ihrem Song "Düm tek tek" auf dem vierten Platz. Die Band "Manga" nur ein Jahr später sogar auf Platz 2.
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Zuletzt geht der Musiker Can Bonomo 2012 in Baku mit dem Titel "Love Me Back" für die Türkei ins Rennen und erreicht den siebten Platz.
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Doch freizügige Szenen wie beim Auftritt der Finnin Krista Siegfrids im Jahre 2013 bieten der Türkei einen willkommenen Anlass, nach 2012 nicht mehr am ESC teilzunehmen.
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Als Alternative zum Eurovision Song Contest wird der Turkvision Song Contest ins Leben gerufen, ein Wettbewerb für turksprachige Völker, an dem auch die Türkei regelmäßig teilnimmt.
Viele Türken wären für eine ESC-Teilnahme
Tatsächlich bedauern viele Türken, dass ihr Land nicht mehr am Eurovision Song Contest teilnimmt, und viele ehemalige ESC-Teilnehmer erfreuen sich ungebrochener Beliebtheit. So sitzen beispielsweise Athena (Teilnehmer 2004) und Hadise (Teilnehmer 2009) in der Jury der aktuellen Staffel von "The Voice", während Altstars wie Ajda Pekkan (Teilnehmer 1980) oder M.F.Ö. (Teilnehmer 1985 und 1988) noch immer die Stadien füllen. Die Teilnehmerlisten alter türkischer Vorentscheidungen lesen sich wie das Who's who der türkischen Popgeschichte, von Füsun Önal über Ilhan Irem und Cancan Ercetin bis hin zur Grande Dame des Türkpops, Sezen Aksu. Hochgeschätzte AutorInnen wie Aysel Gürel oder Selmi Andak bestückten die nationale Auswahl mit ihren Werken. Der Rest Europas blieb von dem Staraufgebot allerdings unbeeindruckt. Semiha Yankis Evergreen "Seninle bir dakika" - bis heute im Standardrepertoire jeder türkischen Karaokebar - wurde sogar gleich bei der ersten Teilnahme 1975 mit dem letzten Platz abgestraft.
Keine Teilnahme durch die politische Situation
Drei Jahre brauchte die Türkei, um sich von dieser Schmach zu erholen, um dann 1978 mit der Gruppe Nazar und Sängerin Nilüfer, die zu den größten Stars ihrer Zeit zählte, auf dem vorletzten Platz zu landen. Die politische Lage in den späten 1970er-Jahren war unruhig und das Land stand wirtschaftlich auf wackligen Füßen, als die geplante türkische ESC-Teilnahme in Jerusalem die ohnehin nicht besonders innigen Beziehungen mit den arabischen Nachbarstaaten auf eine Zerreißprobe stellte: Am 4. März 1979 zog TRT auf Drängen des türkischen Außenministeriums die Reißleine und nahm den Beitrag "Seviyorum" von Maria Rita Epik aus dem Wettbewerb - als Reaktion auf "neue Entwicklungen in der arabischen Welt", wie aus einer offiziellen Pressemitteilung hervorgeht. Vor diesem Hintergrund erscheint die türkische ESC-Teilnahme 1980 mit einem Loblied auf das Erdöl ("Petr'ol" von Ajda Pekkan, die sich für ihren Auftritt ihre blonden Haare orientalisch schwarz färben musste) in einem anderen Licht.
2003 gewinnt Türkei erstmals den ESC
Nach dem Militärputsch am 12. September 1980, dessen traumatische Auswirkungen bis heute in der Gesellschaft spürbar sind, buhlte die Türkei mit (vermeintlich) westlich anmutenden Klängen und Texten um die Gunst Europas, doch wie der in Aussicht gestellte EU-Beitritt ließen auch die ESC-Punkte auf sich warten. Nur zweimal gelang einem türkischen Beitrag in dieser Zeit der Sprung in die Top Ten (1986 und 1997). Erst 2003 konnte die Türkei den Eurovision Song Contest mit Sertab Erener und "Everyway That I Can" für sich entscheiden. Es war ein Beitrag, der mit einem osmanischen Erbe spielte, das bis dahin als rückständig und verpönt galt. Und es war das Jahr, in dem Recep Tayyip Erdogan die Regierungsgeschäfte übernahm. Es folgten Jahre des Aufschwungs - sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch beim Eurovision Song Contest, wo die Türkei (bis auf wenige Ausnahmen) einen Top-Ten-Erfolg nach dem anderen feierte.
Einführung der Jury als Diskriminierung empfunden
Zu einem nicht unerheblichen Teil waren diese Erfolge der Einführung des Televotings zu verdanken, das nun auch die Stimmen türkeistämmiger Zuschauer aus Mitteleuropa berücksichtigte - Stimmen, die dringend benötigt wurden, denn statistisch ist die Türkei das Land, das beim ESC am stärksten polarisiert und von besonders vielen anderen Ländern (vor allem aus Osteuropa) deutlich weniger Punkte erhält, als ihm im Durchschnitt zustehen würden. Die Wiedereinführung der Jury im Jahr 2008, mit der allgemein der Einfluss der stimmberechtigten Bevölkerungsminderheiten beschnitten werden sollte, wurde daher als unmittelbare Diskriminierung der Türkei empfunden - nach dem Vorschlag einer "privilegierten Partnerschaft" mit der EU eine weitere Demütigung, die sich mit dem neuen Selbstwertgefühl der Regierungspartei AKP offenbar nicht vereinbaren ließ. Lesbische Küsse wie bei Krista Siegfrids 2013 oder bärtige Frauen wie bei Conchita Wurst 2014 boten nur den willkommenen Anlass, einem Europa fernzubleiben, das der Türkei nach Auffassung der Machthaber nicht auf Augenhöhe begegnet.
Turkvision: Unzureichendes Trostpflaster
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Ohnehin ist das Land längst damit beschäftigt, sich außenpolitisch stärker nach Osten zu orientieren - in Richtung der zahlreichen Turkvölker in den Weiten Zentralasiens, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs zu interessanten Verbündeten geworden sind. Mit Veranstaltungen wie dem Turkvision Song Contest soll die "Türkische Kulturnation" als Basis eines künftigen gemeinsamen Wirtschaftsraums beschworen werden - angesichts der politischen Interessen Russlands und Chinas allerdings mit überschaubarem Erfolg. Selbst als Trostpflaster für die Nichtteilnahme am Eurovision Song Contest eignet sich die Veranstaltung nur bedingt, denn abgesehen von den vielen türkischen ESC-Fans wissen nur wenige Zuschauer, dass es den Gesangswettbewerb der Turkvölker überhaupt gibt. Und ganz ohne Europa geht es auch dort nicht: Nach Deutschland und verschiedenen Balkanstaaten gehen in diesem Jahr erstmals auch Lettland, die Niederlande und Schweden mit türkeistämmigen Künstlern an den Start.
