Die Bühne in Turin leuchtet in der Farben der Ukraine: Gelb-Blau. © EBU Foto: Andres Putting

Der ESC - ein (un)politischer Wettbewerb?

Stand: 13.05.2022 13:50 Uhr

Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine hat kurz vor dem ESC-Finale in Turin die Frage aufgeworfen: Wie politisch ist der Eurovision Song Contest - trotz generellen "Unpolitischseins" des Wettbewerbs - in diesem Jahr?

von Dr. Irving Wolther

Laut Reglement des Eurovision Song Contest ist der Wettbewerb eine "unpolitische Veranstaltung". Demnach sind beispielsweise Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur während des Contests untersagt. So weit so theoretisch, denn: Schon immer hatte der größte Musikwettbewerb der Welt eine - mehr oder weniger offensichtliche - politische Dimension. Dies erklärt auch den Ausschluss Russlands vom "unpolitischen" ESC: Die Europäische Rundfunkunion (EBU) sah sich zu diesem Schritt gezwungen, um ihren Wettbewerb vor einem Missbrauch als medialem Nebenkriegsschauplatz zu bewahren.

Beeinflusst Krieg Siegchancen der Ukraine beim ESC?

"ESC: Das klingt nach einem politischen Sieg - nicht nach guter Musik", "Schade, dass der Sieger am Samstag schon feststeht ... es wird die Ukraine" oder "Ist doch eh alles politisch und nicht mehr das, was es mal war". Solche und ähnliche Statements füllen aktuell die Kommentare in den sozialen Netzwerken und beklagen, dass der eigentlich unpolitisch gemeinte Eurovision Song Contest in diesem Jahr besonders politisch aufgeladen sei. Aber stimmt das eigentlich? Steht der Sieger wirklich schon fest? Und war der ESC früher frei von politischen Einflussfaktoren? Ganz bestimmt nicht.

VIDEO: ESC 2022: Der Siegerauftritt von Kalush Orchestra (3 Min)

Läuft es schlecht, ist gerne Politik Schuld

Es liegt auf der Hand, dass ein Wettbewerb, bei dem Länder sich gegenseitig mit Punkten bewerten, nicht völlig unpolitisch sein kann. Das sehen wir schon, wenn die Verantwortung für das schlechte Abschneiden des eigenen Beitrags auf die heimische Politik geschoben wird. "Europa mag uns nicht", heißt es dann, und plötzlich spielt die kompositorische, gesangliche und tänzerische Leistung der Beteiligten gar keine Rolle mehr - Schuld am Scheitern hat alleine die Politik. Fällt die Platzierung dagegen gut aus, redet niemand davon, dass dies auf einen wie auch immer gearteten Einfluss heimischer Volksvertreter zurückzuführen sei. Sind politische Aspekte bei der Entscheidung von Jury und Zuschauern also in Wirklichkeit gar nicht so bedeutend?

Die Welt schaut auf die Ukraine

Das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit "Stefania" auf der Bühne in Turin. © EBU Foto: Andres Putting
Die ukrainische Band Kalush Orchestra äußerte bislang keine politischen Botschaften, nur ein Dank für die Solidarität mit ihrem Heimatland am Ende ihres Auftritts im erstem Semi.

Fakt ist, dass die Weltöffentlichkeit aktuell große Anteilnahme an der Situation der Ukraine zeigt. Der Krieg und die vielen Schreckensmeldungen sorgen dafür, dass sich die Menschen mit den Opfern der russischen Angriffe solidarisieren. Sie bewirken vermutlich auch, dass "Stefania", dem Beitrag der ukrainischen Band Kalush Orchestra in den Medien eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Damit alleine lässt sich aber kein ESC gewinnen. Die Gräuel der Jugoslawienkriege haben Bosnien-Herzegowina keinen nennenswerten Contest-Erfolg beschert. Und als Polen bei einem Flugzeugabsturz kurz vor dem Wettbewerb 2010 seinen Staatspräsidenten und mehrere Regierungsmitglieder verlor, schaffte das Land nicht einmal eine Finalqualifikation. Mitleidspunkte sind offenbar rarer gesät, als gemeinhin vermutet.

Was ist politisch?

Tatsächlich lässt sich aus dem "Aufmerksamkeitsbonus", den ein Land erhält, das aufgrund seiner politischen Situation ständig in den Schlagzeilen ist, beim ESC nur dann Kapital schlagen, wenn der Song auch etwas taugt. Es ist nicht politisch, wenn ein Song, der bei den Buchmachern unmittelbar vor Beginn der russischen Invasion schon auf Platz 5 der Wettquoten lag, aufgrund der Nachrichtenlage und des damit verbundenen öffentlichen Interesses von den Wettbüros auf Platz 1 gesetzt wird. Es spiegelt einzig und allein die Erwartungen derjenigen wider, die ihr Geld auf den ESC wetten. Die Teilnahme der Ukraine ist dagegen sehr wohl politisch, weil sie sich damit in Zeiten der Bedrohung ihrer Unabhängigkeit als souveräner Staat präsentiert. Sollte man ihr das verbieten, und damit das Opfer bestrafen?

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Das Kalush Orchestra aus der Ukraine mit "Stefania" auf der Bühne in Turin. © EBU Foto: Corinne Cumming

Buchmacher sahen Sieg der Ukraine früh voraus

Die Wettbüros sahen die ukrainische Band Kalush Orchestra früh vorne. Die ESC-Fanclubs hatten sich andere Acts als Sieger gewünscht. mehr

Flagge(n) zeigen

Auf der Jeansjacke einer Frau sind auf dem Rücken "Stefania" und die Flaggen von Estland und der Ukraine aufgestickt, "Hope" steht auf dem Bündchen. © EBU Foto: Andres Putting
Es müssen nicht immer Fähnchen sein. Solidarität mit der Ukraine zeigt sich in Turin auch anders.

Man kann den ukrainischen Beitrag mögen oder nicht, aber man sollte ihm nicht absprechen, den Wettbewerb auch ohne politische Gründe gewinnen zu können. Und man sollte den Jurorinnen und Juroren sowie dem Publikum nicht absprechen, eine unabhängige und für sie stimmige Entscheidung zu treffen. Und wenn diese Entscheidung bedeutet, dass die Ukraine am Ende gewinnt, entwertet das den Wettbewerb nicht im Geringsten. Es würde ihn entwerten, wenn man der Ukraine aus Angst vor einer "politischen" Wertung keine Solidarität zeigen und keine Punkte geben würde - und auch das wäre am Ende politisch. Es lohnt sich übrigens mal einen Blick auf die Accounts zu werfen, von denen gepostet wird, die Entscheidung am Samstag sei schon beschlossene Sache. Nicht dass man am Ende sein "Like" an das Posting eines russischen Trolls vergibt. Denn das könnte ziemlich politisch sein.

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Chanel (Spanien) mit "SloMo" auf der Bühne in Turin. © eurovision.tv/EBU Foto: Corinne Cumming

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 14.05.2022 | 21:00 Uhr

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