Wie politisch ist der Eurovision Song Contest?
Wenige Tage vor dem ESC-Finale in Basel flammt erneut die Diskussion auf, ob Israel am Wettbewerb teilnehmen soll. Die Politik hat den ESC wieder einmal eingeholt. Doch wie politisch ist der Wettbewerb tatsächlich?
Laut Reglement des Eurovision Song Contest ist der Wettbewerb eine "unpolitische Veranstaltung". Demnach sind beispielsweise Texte, Ansprachen und Gesten politischer Natur während des Contests untersagt. So weit so theoretisch, denn: Schon immer hatte der größte Musikwettbewerb der Welt eine - mehr oder weniger offensichtliche - politische Dimension. So nutzte Griechenland 1976 seine Teilnahme, um in einem höchst dramatischen Beitrag den Einmarsch türkischer Truppen nach Nordzypern anzuprangern. Norwegen besang 1980 den friedlichen Protest der samischen Bevölkerung gegen eine geplante Wasserkraftanlage auf ihrem Gebiet und für mehr Autonomie. Und dass Nicole 1982 in Zeiten des internationalen Rüstungswettlaufs im Kalten Krieg gerade mit "Ein bisschen Frieden" gewann, ist sicherlich auch kein Zufall. Doch es gibt Unterschiede.
Läuft es schlecht, ist gerne Politik Schuld
Es liegt auf der Hand, dass ein Wettbewerb, bei dem Länder sich gegenseitig mit Punkten bewerten, nicht völlig unpolitisch sein kann. Das erkennt man schon daran, wie oft die Verantwortung für das schlechte Abschneiden des eigenen Beitrags auf die heimische Politik geschoben wird. "Europa mag uns nicht", heißt es dann, und plötzlich spielt die kompositorische, gesangliche und tänzerische Leistung der Beteiligten gar keine Rolle mehr - Schuld am Scheitern wird in solchen Fällen allein der Politik gegeben. Fällt die Platzierung dagegen gut aus, redet niemand davon, dass dies auf einen wie auch immer gearteten Einfluss heimischer Volksvertreter zurückzuführen sei. Spielt die Politik bei der Entscheidung von Jury und Zuschauern also in Wirklichkeit gar keine so große Rolle?
Die Welt schaut auf ein Land

Als die Ukraine 2022 in Turin kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs den ESC für sich entschied, wurde der Sieg der ukrainischen Band Kalush Orchestra schnell auf politische Gründe zurückgeführt. Fakt ist, dass die Weltöffentlichkeit große Anteilnahme an der Situation der Ukraine zeigte und sich mit den Opfern der russischen Angriffe solidarisierte. Dadurch wurde auch "Stefania" in den Medien besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Doch damit allein lässt sich kein ESC gewinnen. Die Gräuel der Jugoslawienkriege bescherten Bosnien-Herzegowina Anfang der 1990er Jahre trotz medialem Interesse keinen nennenswerten Contest-Erfolg. Und als Polen bei einem Flugzeugabsturz kurz vor dem Wettbewerb 2010 seinen Staatspräsidenten und mehrere Regierungsmitglieder verlor, schaffte das Land nicht einmal eine Finalqualifikation. Mitleidspunkte sind beim ESC offenbar eher rar gesät.
Aufmerksamkeit ist unzuverlässiger Bonus
Tatsächlich ist der "Aufmerksamkeitsbonus", den ein Land beim ESC erhält, das aufgrund seiner politischen Situation ständig in den Schlagzeilen ist, von vielen Faktoren abhängig - nicht zuletzt von der Qualität des Songs. Die guten griechischen Platzierungen während der Schuldenkrise hatten gewiss mehr mit den Bemühungen des Landes zu tun, beeindruckende Performances abzuliefern, als mit seiner ständigen Nachrichtenpräsenz. Und über Israel berichten Tageszeitungen, Magazine, Radio- und Fernsehnachrichten seit Jahrzehnten nahezu ununterbrochen. Eine positive Auswirkung auf die Ergebnisse des Landes lässt sich daraus nicht herleiten - allerdings auch keine negative, wie das Abschneiden von Eden Golan trotz aller Kontroversen beim ESC in Malmö zeigt.
Politische Instrumentalisierung
Tatsächlich können sich die Bemühungen um einen "unpolitischen" ESC nicht darum drehen, die Tagespolitik ganz aus dem Wettbewerb zu halten. Die Europäische Rundfunkunion (EBU) als Dachorganisation der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Europa (und darüber hinaus) muss vielmehr darauf achten, dass ihr Wettbewerb im Zuge dieser Tagespolitik nicht politisch instrumentalisiert wird. Dies erklärt auch den Ausschluss Russlands vom ESC, um den Wettbewerb vor einem Missbrauch als medialem Nebenkriegsschauplatz zu bewahren - nicht zuletzt, weil viele EBU-Mitglieder erklärt hatten, dem ESC im Falle einer russischen Teilnahme fernbleiben zu wollen. Auch gegen die Teilnahme Israels regen sich seit dem Krieg in Gaza Proteste, allerdings konnte sich bislang keine Fernsehanstalt zu einer Nichtteilnahme am ESC durchringen.
Was ist eigentlich politisch?
Weniger kritisch gesehen werden dagegen identitätspolitische Aspekte des ESC, die in den vergangenen Jahren eine immer prominentere Rolle spielen, zuletzt bei Nemos Sieg als erster non-binärer Person. Doch auch dieser Sieg war und ist politisch. Und jede Unterstellung, bestimmte Länder(gruppen) würden sich immer Punkte zuschanzen, egal wie schlecht die Songs auch sein mögen, ist politisch, denn sie festigt die Vorstellung, dass die Einwohner dieser Länder nicht so demokratisch denken und handeln wie wir. Und jeder Vorwurf, ein Act bekomme nur deshalb Punkte, weil in dem jeweiligen Land Krieg herrscht, ist politisch, denn er spricht den Künstlern des Landes ab, auch so erfolgreich sein zu können. Selbst der Wunsch, den ESC unpolitisch zu halten, ist politisch, denn er behindert die Kontroverse, die einen Dialog und am Ende womöglich auch einen Konsens herbeiführen kann. Darum: Lassen wir den ESC politisch sein - und miteinander darüber reden.