Kommentar
Wie aus Michael Schulte ein Mit-Favorit wurde
Michael Schultes Weg zum ESC-Finale in Lissabon am Samstagabend war lang. Er ist 28 Jahre alt und in jeder Hinsicht in puncto Eurovision Song Contest kundig. Er kann lupenrein Dänisch, beherrscht die Originalversion des Olsen-Brothers-Klassikers "Smuk som et stjerneskud" perfekt - und singt mit "You Let Me Walk Alone" eines der favorisierten Lieder. Er liegt bei den internationalen Buchmachern nicht mehr so weit hinten, wie vor einer Woche. Er ist kein Hinterbänkler mehr. Sondern unter den Top Ten in Lauerstellung. Was ist los, wie konnte dies geschehen? Die Geschichte einer persönlichen Prüfung.
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Erster Kurzauftritt beim ESC: Michale Schulte ist Gast beim zweiten Halbfinale. Spontan singt er den ESC-Klassiker "Fly On The Wings Of Love" und bekommt großen Beifall.
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Es ist gute Tradition, dass der deutsche ESC-Teilnehmer im Gastgeberland des ESC vom deutschen Botschafter empfangen wird. Dies ist auch in Lissabon der Fall, wo Schulte im Goethe-Institut herzlich willkommen ist.
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Dort zeigt er auch noch einmal sein Können und gibt drei Songs zum Besten: Neben seinem ESC-Beitrag "You Let Me Walk Alone" singt er auch hier den ESC-Hit "Fly On The Wings Of Love" von den Olsen Brothers - und außerdem Sobrals Siegertitel "Amar pelos dois".
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Unterdessen steht er in Lissabon immer wieder bei Proben auf der Bühne. Sein Auftritt wird umrahmt von berührenden Bildern, die ihn und seinen verstorbenen Vater zeigen.
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Ruhig und fokussiert absolviert der 28-Jährige seine Proben - und steigert sich von Auftritt zu Auftritt. Sein Song hat in Kombination mit dem Bühnenhintergrund eine starke emotionale Wirkung.
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Sympathisch und gelassen, ein echtes Nordlicht eben: Michael beim Eröffnungsabend des ESC 2018 am Ufer des Tejo. Viele Fans nutzen die Gelegenheit für Fotos.
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Der Gang über den blauen roten Teppich ist für Michael eine tolle Gelegenheit, mit vielen Menschen über seinen Song zu sprechen.
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Immer wieder gibt es schöne, spannende und musikalische Begegnungen in Lissabon: Beim Interview mit Alina Stiegler trifft Michael auf Cesár Sampson. Die drei haben sichtlich Spaß miteinander und es kommt zur spontanen Gesangseinlage von "Nobody But You", dem Beitrag aus Österreich.
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Stadtrundfahrt in Lissabon: Seine Gitarre hat er immer dabei, man weiß ja nie, wann sich die nächste Gelegenheit bietet, "You Let Me Walk Alone" zu performen.
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Die Sonne scheint am Torre de Belém, einem der Wahrzeichen von Lissabon, die Stimmung ist entspannt, genau richtig für eine kleine Pause mit Musik.
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Lissabon ist so schön, man möchte die ganze Stadt umarmen. Aber die Arbeit ruft.
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Pressekonferenz nach einer der Proben - Michael zeigt sich ausgesprochen entspannt: "Ich bin glücklich", sagte er, vor "allem der Sound war gut".
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Rückblick: Am 22. Februar gewinnt Michael den deutschen Vorentscheid "Unser Lied für Lissabon" in Berlin.
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Seinen Song "You Let Me Walk Alone" widmet er seinem vor 13 Jahren gestorbenen Vater.
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Auftritt und Songauswahl kommen sowohl bei den Zuschauern als auch bei den internationalen Experten und der 100-köpfigen Eurovisions-Jury am besten an.
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Noch etwas ungläubig nimmt Michael Schulte die Glückwünsche von Moderator Elton entgegen. Ein Traum wird wahr: Er fährt für Deutschland zum ESC nach Lissabon.
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Bis dahin ist Michael Schulte immer konsequent seinen Weg gegangen. Er wird 1990 geboren und wächst in Dollerup bei Flensburg auf - ein echtes Nordlicht also.
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Er besucht eine dänische Schule, weshalb er die Sprache fließend spricht. Mit sieben oder acht Jahren bekommt er eine kleine Kindergitarre geschenkt. Sein Vater zeigt ihm ein paar Griffe.
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Später geht Michael für ein halbes Jahr zum Gitarren-Unterricht. Doch er ist Autodidakt: Den Rest bringt er sich selbst bei. Neben dem Gitarrespielen singt er unglaublich gerne.
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2008 lädt er eine von ihm gesungene Cover-Version auf YouTube hoch. Das kommt gut an und Schulte veröffentlicht von da an regelmäßig Videos auf der Plattform.
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Zudem veröffentlicht er eigene Alben. Nach einer Zwischenstation in Hamburg lebt er nun in Buxtehude. Dort ist man natürlich mächtig stolz auf den Jungen mit der Gitarre, der es bis nach Lissabon auf die ESC-Bühne geschafft hat.
Gänsehautlied - aber aus Deutschland?
Acht Tage vor dem Finale, Michael Schulte probt erstmals in der Altice Arena von Lissabon. Er singt sein "You Let Me Walk Alone" drei Mal. In der Halle sind keine Medienleute, sie hören im Pressezentrum zu. Dort, wo immer mehr oder weniger lärmend gearbeitet wird, kehrt Stille ein. Am Ende erntet der 28-jährige Deutsche Applaus. Von "Gänsehautlied" ist unter Kollegen zu hören, "toll" und "zum Weinen schön" wird kommentiert. Und dann sagt einer einen trostlosen Satz: "Wenn es nicht Deutschland wäre, für das er singt, würde ich denken, na klar, der wird mindestens Zehnter. Wenn nicht besser." Und ein anderer Experte meint: "Ich trau mich nicht, Deutschland besser als auf den 25. Platz zu sehen, war doch sonst immer so."
Wie alles begann - in Köln

Michael Schulte hatte schon beim Workshop in Köln das gesuchte, gewisse Etwas.
Im Dezember war er in Köln beim Workshop der möglichen deutschen ESC-Kandidaten. Michael Schulte war am ersten der fünf Tage dabei - und wirkte schon in diesen grauen Wochen wach, aufmerksam und verträumt zugleich. Wolfgang Dalheimer, Heavytones-Chef einst bei Stefan Raab und jetzt Berater und Mentor der deutschen ESC-Bewerber, hatte Schweigepflicht, durfte auch nichts über ihn, den Mann aus Buxtehude, sagen. Aber er dann am Mikro stand und ein Lied anstimmte, erkannte man auf dem Gesicht des Musikprofis Respekt und Staunen: Da war offenbar einer, der das Zeug hat, einen ESC nicht nur als günstige Gelegenheit zu nehmen, sondern als Chance auf das ganze große Ding.
Denn Michael Schulte war ja schon wer. Einer, der unabhängig von der Plattenindustrie, von ihren Einflüsterungen und oft schlechten Ratschlägen, sich selbst die Terminbücher führt und auf YouTube schon ein Star ist. Michael Schulte ist beglaubigt durch millionenfache Klicks. Er singt gern Coverversionen, denn das, so sagt er, bringe mehr Aufmerksamkeit als die selbst komponierten Lieder.
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Unabhängig von der Musikindustrie
Dann kam die nächste Runde, der nächste Schritt - Ende Januar das Song Writing Camp in Berlin. Und niemand ahnte, dass der damals 27-Jährige schon wusste, im Sommer Vater zu werden, und dass dies seine eurovisionären Textfantasien beflügeln würde. In der ehemaligen Fabriketage an der Gneisenaustraße saß er, wie auch die anderen Vorentscheidungskünstler, mit Textern und Komponisten, um vielleicht ein Lied für Lissabon zu basteln. Uns sagte er an diesem Nachmittag auf die Frage, ob es eine eigene Komposition werden würde: "Das auf jeden Fall!" Michael Schulte - der Mann, der sein Werk im künstlerischen Griff hat, weil er nicht nur Interpret sein will, sondern auch Erfinder eines Liedes, seines Acts.
Der 22. Februar in den Berliner TV-Studios sah ihn, den Favoriten der Vorentscheidung, seltsam nervös. Das waren seine Rivalen auch, aber Michael Schulte, der so fein mit seiner Stimme Atmosphäre schaffen kann, wirkte angespannt. Selbst als er mit "You Let Me Walk Alone" gewonnen hatte, als er seinen Titel unter buntem Konfetti nochmals sang, schien eine gewisse Anspannung zu bleiben.
Wenig Aufmerksamkeit - in den Proben immer besser
Dabei hatte er gewonnen - jetzt würde nur noch die Kür folgen. Mit einem Wort: Lissabon. Die erste deutsche ESC-Siegerin Nicole sagte uns einmal: "In Harrogate zu gewinnen, damals, 1982, war viel leichter als die deutsche Vorentscheidung. Das ist die Hürde, vor der man als Künstler Angst hat. International zu singen war einfacher."
Für Michael Schulte hörte freilich die Zeit der Prüfungen nicht auf. Die Radiowellen spielen sein Lied kaum, er wird sozusagen zum Objekt des üblichen Zynismus der die Radiomusik auswählenden Redakteure: Man traut dem ESC nichts zu, man will nur Chartmusik. Cool nimmt Schulte das wohl hin. Auch dass die Medien über ihn und über den ESC in der ersten Zeit nach dem Vorentscheid wenig schreiben. Irgendwie kein Wunder: War ja nicht so fett die letzten Jahre aus deutscher Sicht.

Die Wetten Anfang April sahen den Beitrag Deutschlands nicht einmal unter den ersten Acht.
Doch er studiert, was über ihn geschrieben wird. Er guckt sich die aktuellen Stände der internationalen Buchmacher an. Und realisiert, dass er selbst von den Fanclubs kaum beachtet wird. Und er sieht, dass er vom anfänglichen Platz neun gar auf Platz 22 in den Wettbüros fällt. In Lissabon wird er von Tag zu Tag, von Probe zu Probe besser. Im eher kargen Bühnenbild, konzipiert von Florian Wieder, Ladislaus Kiraly und Falk Rosenthal, fühlt er sich wohl. Doch mit Partys, mit langen Nächten, hält er sich zurück. Er geht mit seiner Freundin lieber mal in die Stadt, ohne Tross von Aufpassern.
Er will die Kontrolle behalten und tut gut daran

Auf dem Roten Teppich in Lissabon beantwortet Michael Schulte geduldig die Fragen der Journalisten.
Ein normaler junger Mann, der beharrt, auch in Lissabon privat sein zu können. Was keine Missachtung professioneller Pflichten bedeutet: Sympathisches Auftreten am roten Teppich, Stadtrundfahrt mit Medienleuten - und Michael Schulte macht alles mit, lehnt keinen Fotowunsch ab, erlaubt auch mit ihm zusammen ein Selfie und sagt danach "Danke". Kein Missmut bei ihm, kein Zeichen von Stress.
Es ist die Zeit seines Lebens, er muss dies wissen und handelt cool. Er liebt den ESC, er kann Salvador Sobrals Siegeslied "Amar pelos dois" anderthalb Strophen in schönem Portugiesisch singen und zeigt dies selbst beim Empfang der deutschen Botschaft: Michael Schulte, das fällt auf, unterscheidet sich von so gut wie allen deutschen ESC-Kandidaten der vergangenen vielen Jahre, weil er nicht an Gefallsucht leidet, nicht an überdrehter Gutgelauntheit, die ja immer ein Zeichen für Überforderung ist.
Er hat ein autobiografisches Lied geschrieben, es ist keine Geschichte, die er erfindet. Sie gibt es wirklich: ein Vater, um den er trauert, weil er ihn nach dessen Tod vermisste und immer noch vermisst - besonders jetzt, da er selbst bald Vater wird.
Perfekte Auftritte im Semi- und Juryfinale
Seit Mittwoch steigt er in den Wetten der Buchmacher, von Platz 16 macht er zunächst einen Sprung auf Platz neun. Dann: acht, sieben, sechs, fünf, vier, wieder fünf und sechs. Resultat seines ersten TV-Einsatzes, im zweiten Semifinale. Charmant und schlagfertig spielt er auf der Ukulele "Fly On The Wings Of Love". Brausender Applaus in der Halle!
Kurzauftritt von Michael Schulte im zweiten Halbfinale
Es wird ein Junge! Das hat Michael Schulte im Rahmen des zweiten Halbfinals verraten. Auch musikalisch überzeugte der deutsche Finalist im Greenroom.
Und allmählich beginnt sich im Pressebereich etwas zu ändern. Ein holländischer TV-Kollege sagt: "Immer wenn ich ein deutsches Lied summe und ich es auf der Rechnung habe, schneidet es gut ab. Zuletzt vor acht Jahren." Und ergänzt: "Bei Lena."

Im Juryfinale geht es für Michael Schulte zum ersten Mal beim ESC um sehr viel. Er legt einen großartigen Auftritt hin.
Freitagabend, Juryfinale, Michael Schulte singt als Elfter, er ist gesanglich so gut drauf wie nie, er phrasiert seine Stimme, er lächelt erleichtert, als selbstkritischer Perfektionist weiß er, dass er gut performt hat. Und sagt, als sei eine weitere Last von ihm abgefallen: "Thank you". Wird er am Samstagabend das Momentum haben, über sich hinauszuwachsen, frei sein, ja, seinem Vater auf diese Weise danken?
Die Frage stellt sich jetzt wirklich: Wird es Michael Schulte sein, der das beste deutsche ESC-Ergebnis seit Lena erreicht?

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