Stand: 16.05.2018 14:50 Uhr

Die Macht der Jurys mindern!

Cesár Sampson auf der ESC Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Ohne Televoting wäre Cesár Sampson aus Österreich ESC-Sieger 2018 geworden.

Ohne das Televoting hätten wir in Lissabon einen stolzen Österreicher als Sieger gesehen, Cesár Sampson mit seiner souligen Nummer "Nobody But You". Die Jurys - in denen keine Laien sitzen dürfen, sondern Musikprofis, Angehörige der Musikindustrie etwa - sahen ihn vorne, wie gleich hinter ihm den Schweden Benjamin Ingrosso mit "Dance You Off".

Nichts gegen den Österreicher, nichts gegen den Stockholmer persönlich, aber ihre Lieder fanden beim Publikum kaum Gefallen.

UMFRAGE

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Wie groß soll der Einfluss der ESC-Jurys künftig sein?

Ende der 90er wurde das Televoting eingeführt

Erst das Televoting brachte die Israelin Netta Barzilai wie auch Zyperns Kandidatin Eleni Foureira gerechterweise auf die Plätze eins und zwei. Gerechterweise, weil sie Titel sangen, die auch in den Charts Erfolg haben werden: Das Publikum stimmt nur für Acts, die es gut findet und prinzipiell wieder hören will - und nicht, wie im Sinne der Jurys, wieder hören soll.

Corinne Hermès 1983 beim Grand Prix. © EBU
Corinne Hermès gewann den ESC 1983 - und war eine der unbeliebtesten Teilnehmerinnen überhaupt.

Das Televoting ist Ende der 90er-Jahre eingeführt worden - weitgehend auf Betreiben des NDR, des schwedischen Senders SVT und der dänischen TV-Station DR, um zu verhindern, dass, wie in viel zu vielen ESC-Jahren zuvor, Sänger und Sängerinnen am Ende eines ESC die Nase vorn haben, die die Musikfunktionäre und -industrieangehörigen gut finden, aber die das Publikum eher meidet. Corinne Hermès, Siegerin des Jahres 1983, war eine der, im Hinblick aufs Radio-Airplay, unbeliebtesten Siegerinnen jemals. Der Jugoslawe Daniel, die Israelin Ofra Haza oder die Schwedin Carola hatten in diesem Jahrgang die Hits, nicht die Frau mit dem elegischen "Si la vie est cadeau".

Jurys haben populäre ESC-Lieder am Sieg gehindert

Noch ein Beispiel für die bizarren Urteile von Jurys: 1996 gewann die Irin Eimear Quinn mit "The Voice", einem Lied voller Keltenfolkloristik. Jene, die den einzigen Charterfolg dieses Jahres beim ESC hatte, die für Großbritannien startende Gina G. und ihrem "Ooh Aah … Just A Little Bit", wurde von den Jurys auf den achten Platz gewertet, weil man offenbar nicht wollte, dass ein solch zeitgenössisches, also chartfähiges Lied gewinnen kann.

Jurys, das bewies auch der ESC in Lissabon, neigen dazu, ihre persönlichen Geschmäcker in den Vordergrund zu stellen. Und der deckt sich oft nicht mit dem, worauf das Publikum abfährt. Seit Einführung des Televotings sind Sieger aus dem ESC hervorgegangen, die auch populäre Lieder sangen und damit wiederum zur Popularität des ESC beitrugen.

Länderblockwertungen inzwischen schwächer ausgeprägt

Stefan Raab 2000 beim deutschen Vorentscheid zum Grand Prix. © dpa Foto: Ingo Wagner
Stefan Raab bekräftigte 2004 das Gerücht, nach dem der ehemalige Ostblock immer geschlossen abstimmt.

Das Televoting wurde freilich in Misskredit gebracht, weil das Publikum in den einzelnen Ländern nur solche Acts mit Anrufen und Kurznachrichten bedenkt, die man politisch gut findet - angeblich zumindest. Stefan Raab setzt nach Max Mutzkes achtem Platz von Istanbul 2004 das Märchen in die Welt, sein Kandidat sei, sinngemäß, am Eisernen Vorhang gescheitert: Osteuropa halte immer noch zusammen. Das stimmte zwar schon damals nicht, weil der loyalste Block immer der skandinavische war, aber das Gerücht war in der Welt.

Und das sollte Folgen haben: Nach Lordis Sensationssieg 2006 in Athen wurde an Plänen gearbeitet, die Idee der Jurys wieder mit Kraft zu beatmen.

Dabei war schon immer wahr: Ein Lied etwa aus Norwegen hat eine größere Chance aufs schwedische Televoting als auf das aus Aserbaidschan. Nachbarschaften spielen eine Rolle, richtig. Aber: Das Juryergebnis von Lissabon ist der letzte Beweis, dass es diese Blockwertungen nur noch mit geringerem Einfluss gibt. Alexander Rybak hat in Skandinavien nicht den Jackpot des Publikums geknackt, auch nicht Benjamin Ingrosso. Dafür der Däne Rasmussen, aber den liebte das Televotingpublikum aus 43 Nationen ohnehin viel stärker als die Jurys, die sein "Higher Ground" glatt links liegen ließen.

Das italienische Duo zu "überhören": grotesk

Ermal Meta und Fabrizio Moro auf der Bühne in Lissabon. © eurovision.tv Foto: Andres Putting
Die Italiener wurden vom Publikum 2018 auf Platz drei gevotet, von den Jurys nur auf Platz 17.

Ein Skandal war auch, dass die Italiener Ermal Meta & Fabrizio Moro für ihr Antiterrorismuslied "Non mi avete fatto niente" bei den Jurys nur ein müdes Ignorieren provozierten, Platz 17. Vom Publikum aber ist es auf Platz drei gewählt worden - es hatte die Botschaft verstanden, und sie ging ihm nah. Tschechiens Mikolas Josef landete bei den "Experten" auf Platz 15, beim Publikum fand er viel mehr Anklang und endete auf dem vierten Rang.

Und so sehr ich Jamalas "1944" vor zwei Jahren mochte (und noch gerne mag), aber der Sieger des Abends hätte der Russe Sergej Lazarev sein müssen - er gewann das Televoting vor der Ukrainerin. Dass ich seinen Titel nicht so schätzte, ist einerlei: Als Demokrat kann ich akzeptieren, wenn meine persönlichen Vorlieben nicht von der Mehrheit geteilt werden.

Im Übrigen: Das Televotingergebnis ist auch ein Beweis, dass es flächendeckend keine starken Blockwertungen mehr gibt. Insofern sind die Jurys als Korrektiv unnötig geworden, der ESC braucht sie objektiv nicht. Aber weil sie nun mal da sind, plädiere ich dafür, ihren Einfluss um die Hälfte zu reduzieren. Juryergebnisse hätten dann nur noch ein Viertel Stimmgewicht für das Ganze, nicht mehr die Hälfte.

Ihre Macht muss gemindert werden: Fast hätten sie Netta und Eleni als Spitzenfrauen verhindert. Gott sei Dank konnte das eurovisionäre Publikum die grob fehlerhaften Urteile der Jurys korrigieren.

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Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Eurovision Song Contest | 12.05.2018 | 21:00 Uhr

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