Stand: 18.12.2018 16:27 Uhr

Feddersens Rückblick: Ein guter ESC-Jahrgang!

Fahnenschwenkende Menschen im Publikum vor der Bühne in Lissabon. © eurovision.tv Foto: Thomas Hanses
Kein großes Budget, aber eine besondere Atmosphäre: Der ESC 2018 war eine runde Sache.

Im Jahr vor dem Eurovision Song Contest hatten in Portugal die Wälder gebrannt - und das hatte auch finanzielle Auswirkungen auf den Wettbewerb. Alles musste etwas karger ausfallen, nicht so wie etwa 2009 in Moskau, als für den ESC 70 Prozent der Weltbestände an LED-Lichtsystemen in der Bühne verbaut wurden. Aber war die etwas günstigere Ausführung der populärsten europäischen Musik-Show mit queerem Appeal schlecht? Nein - denn man sah es nicht. Lissabon bot eine besondere Atmosphäre und Kulisse am Tejo, der Atlantik nicht weit. Die Leute waren von ergreifender Freundlichkeit, rund um die Halle Sicherheitsvorkehrungen, die an einen Verkehrskindergarten erinnerten. Lissabon war als ESC-Gastgeber Spitzenklasse.

Bühne für portugiesische Musik

Salvador Sobral und Caetano Veloso auf der Bühne in Lissabon. © NDR Foto: Rolf Klatt
Auch auf der Bühne: Vorjahressieger Salvador Sobral trat mit Caetano Veloso als Interval Act auf.

Viele mochten die vier Moderatorinnen Daniela Ruah, Sílvia Alberto, Catarina Furtado und Filomena Cautela - nicht jedoch die Pre- und Interval-Acts mit eher portugiesischer Musik, eben nicht Justin Timberlake oder Rammstein. Sondern Ana Moura und die großartige Mariza, die auch auf dem deutschen Botschaftsempfang gesungen hatte. Außerdem Salvador Sobral mit Caetano Veloso und Sara Tavares, die 1994 schon beim ESC dabei war. Seit 1994 in Dublin, als "Riverdance" als weltweites Irland-Tanzprojekt geboren wurde, war dies der eigensinnigste Beitrag der Gastgeber zu einem ESC.

Michale Schulte macht deutsche ESC-Fans glücklich

Michael Schulte auf der Bühne in Lissabon. © NDR Foto: Rolf Klatt
Toller Erfolg für Michael Schulte: Er erreichte den vierten Platz.

Ihm sind schon viele, sehr viele Kränze geflochten worden, und das zu Recht. Michael Schulte, der deutsche ESC-Kandidat, hat von den nichtöffentlichen Auditions ein halbes Jahr vor Lissabon über das Songwriting-Camp, die Vorentscheidung in Berlin bis zum Finale alles richtig gemacht. Er hat den ESC nie als pure Darstellungsfläche genommen, er hat die Idee der eurovisionären Plattform verstanden und sie damit ernst genommen. Ja, man merkte, dass er den ESC wertschätzt. Interessant in der Rückschau ist, dass im Pressezentrum nach den ersten Proben Schultes niemand von den Medienkollegen an den Mann aus Buxtehude glauben wollte - obwohl sein Titel "You Let Me Walk Alone" von der ersten Probe an berührend war, nicht erst im Finale. Deutschland wurde offenbar kein Erfolg zugetraut. Irrtum, gut so. Michael Schultes Lied war von schlichter Schönheit.

Verdienter Sieg für Netta

Netta auf der Bühne in Lissabon. © NDR Foto: Rolf Klatt
Netta holte den Sieg - und damit den ESC nach Israel.

Netta Barzilai, die große Favoritin aus Israel, die YouTube-Königin, war in ihrer Heimat ein No-Name. Sie setzte sich in den Vorentscheidungsrunden mit größter Entschlossenheit, die ihre Schüchternheit nur mühsam verdeckte, durch - und intonierte die Hymne für alle Menschen, die von vordergründigen Beautys und Schönlingen missachtet werden. "Toy" hat aber gewonnen, weil es das modernste Pop-Lied des Abends war. Selbst der Umstand, dass sie ihr Stimm-Looping-Gerät auf der Bühne nicht nutzen durfte, irritierte die Israelin nicht. Zwar nur Dritte bei den Jurys, aber Siegerin beim Televoting: Nicht nur in Israel ist sie eine Heldin, diese verdiente Siegerin.

Spannung bis zum Schluss

Cesár Sampson auf der ESC Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Cesár Sampson lag ganz weit vorne - und wurde schließlich Dritter.

Das neue Punktevergabesystem war mal wieder spannend, es hat sich bewährt. Österreichische Kollegen bekamen zwar nach der Juryauszählung eine kollektive Herzattacke, weil ihr Kandidat Cesár Sampson vorn lag - sollte dieses kleine Land vier Jahre nach dem ESC in Wien schon wieder ein Eurovisionsfestival ausrichten? Nein, am Ende obsiegte Freude über den dritten Platz: Erst mit den letzten beiden Wertungen, die für Zyperns Eleni Foureira und Netta Barzilai zu vergeben waren, klärte sich das Feld. Spannung pur!

Seelenloser Pop aus Schweden

Benjamin Ingrosso auf der Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Schwedens Benjamin Ingross konnte die Zuschauer nicht mitreißen.

Schwedens Benjamin Ingrosso hätte eigentlich den Preis für den langweiligsten Pop des Abends verdient. Sein "Dance You Off" befreit die Schweden vielleicht von dem Glauben, dass sie schon wissen, was das Publikum beim ESC hören will. Der junge Mann mit dem Anknipslächeln ohne Herz erhielt vorzügliche Noten von den Jurys, landete beim Televoting aber unter ferner liefen. Und wir lernten: Was die Jurys denken, wird schon der Musikindustrie gefallen, aber nicht den Konsumenten.

Italiener mit politischer Botschaft

Ermal Meta und Fabrizio Moro auf der Bühne © NDR Foto: Rolf Klatt
Ermal Meta und Fabrizio Moro kamen mit einem politischen Titel.

Italiens Männerduo Ermal Meta & Fabrizio Moro lieferten mit dem Titel "Non mi avete fatto niente" eines der interessantesten Lieder des Abends, eine politisch gefärbte Kritik an der oft herzenskalten Flüchtlingspolitik. Die Jurys ignorierten sie weitgehend und fälschlich - das Publikum hievte sie schließlich unter die Besten. Sie haben es sich verdient!

Ein Jahr mit vielen tollen Auftritten

DoReDoS auf der Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Knallbunt und erfrischend: Die DoReDoS sorgten für Party-Stimmung in Lissabon.

Aber es gab unter den Platzierten viele noble Performances. Die Britin SuRie zum Beispiel, die von einem Störer beeinträchtigt wurde und trotzdem nervenstark ihre Show mit dem Titel "Storm" durchzog. Die Trickkulissen-ComboDoReDoS aus Moldau waren mit "My Lucky Day" der vielleicht charmanteste, erfrischendste und verspielteste Act. Frankreichs Duo Madame Monsieur und ihr zeitkritisches Lied "Mercy"  funktionierte an jedem Tag in Lissabon, aber nicht am Finalabend - große Show, sehr geschmackvoll inszeniert und fein gesungen. Und nicht zuletzt die Portugiesinnen, die in Salvador Sobrals Schuhe passen wollten. Cláudia Pascoal und Komponistin Isaura wurden Letzte im Finale mit "O jardim" - so ungerecht kann es nur beim ESC zugehen.

Fremdschämen für Russland

Julia Samoylova auf der Bühne. © NDR Foto: Rolf Klatt
Die russische Kandidatin Julia Samoylova schied im Halbfinale aus.

Julia Samoylova hätte für Russland niemals singen dürfen - ihre Anwartschaft lebte davon, dass sie als auf den Rollstuhl angewiesene Künstlerin möglichst wenig gezeigt wurde, ihre Stimme schien ausgeblendet. Die russische Performance war zum Fremdschämen - die Sängerin schien instrumentalisiert worden zu sein. Nicht minder gruselig war San Marinos Jessika feat. Jenifer Brening - das war unterirdisch und textil sehr freizügig, was auch nicht half. Islands Ari Ólafsson mag schön gesungen haben, aber sein fades "Our Choice" landete am Ende auf dem allerletzten Platz.

Seit 1997 hat es das nicht gegeben: Weder ein skandinavisches noch ein Land des früheren Ostblocks oder eines aus dem ehemaligen Jugoslawien landete unter den Top Five. ESC ist, wenn alle Statistiken aus den Jahren und Jahrzehnten nicht mehr gelten. Prima ist das - Vorhersehbarkeit wäre der Tod aller Wettbewerbe. Es war ein sehr gutes Jahr, nicht zuletzt, weil der ESC eben wieder einmal spannend war.

Dieses Thema im Programm:

NDR Blue | ESC Update | 22.12.2018 | 19:05 Uhr

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