Kommentar: Russland erstmals nicht im Finale
Seltsam, wie selbst hochgehandelte Künstler nervös werden, wenn es darauf ankommt. Der Norweger Alexander Rybak flatterte bei seiner Performance in fast jeder Hinsicht, und doch ist seine Präsenz offenbar so stark gewesen, dass er am Samstag im Finale weiter mitmachen darf. Benjamin Ingrosso, mit einer der teuersten Produktionen des diesjährigen Eurovision Song Contest am Start, kehrt nicht nach Schweden zurück: Sein "Dance You Off" ist weiter im Rennen. Das gilt auch für Waylon, den Niederländer, der seinen Country-Rocksong wuchtig in die Kameras transportierte. Er wurde als zehnter Finalkandidat genannt. Wenn das nicht geschehen wäre, hätten die holländischen Fans - so schien es im Fanbereich - einen kollektiven Infarkt erlitten.
Tolle Show von den DoReDoS
Schön, dass von den Außenseitern die DoReDoS aus Moldau mit ihrer anbetungswürdig luftigen, unangestrengten Show um "My Lucky Day" weiterkamen, ebenso der Däne Rasmussen mit "Higher Ground", der vermutlich in der Nacht zum Sonntag, wenn die Ergebnisse der Halbfinale veröffentlicht werden, aus Deutschland wegen seiner ästhetischen Verwandtschaft mit Santiano viele Punkte erhalten hat.
Ungarn: Metal-Jungs im Finale
Ungarns Metal-Jungs von AWS - so lupenrein gab es diesen Stil beim ESC ja noch nie - schafften es mit einer erfrischenden Show genauso wie der serbische Act von Sanja Ilic und die Slowenin Lea Sirk, die ihr Land nach zwei finallosen Jahren wieder in den Mittelpunkt rücken kann. Mélovin aus der Ukraine wurde ebenso ein Weg zur Endrunde geebnet: Seine hochartifizielle Show unter dem Titel "Under The Ladder" fand hinreichend Gnade bei den Juroren und Televotern.
Nicht minder die aus meiner Sicht leidenschaftlichste Show des Abends, die der Australierin Jessica Mauboy, die ihr "We Got Love" wie die zyprische Kandidatin mit Gebirgen an Extensions in der Frisur anzureichern wusste.
Manche der ausgeschiedenen Acts dürfen nicht sehr enttäuscht sein, ihnen fehlte eben das gewisse Quäntchen Klasse. Montenegros Vanja Radovanovic, Maltas Christabelle, auch San Marinos Frauen Jessika feat. Jenifer Brening, die Polen um Gromee, die Georgier der Formation Iriao und The Humans aus Rumänien: Nein, das war einfach nicht stimmig, was sie zu bieten hatten.
Russland enttäuscht
Den größten Schock wird jedoch Russland erlitten haben: Das Land hat sich erstmals nicht fürs Finale qualifizieren können, es muss nun am Samstag ohne einen Kandidaten am Start zugucken. Julia Samoylova hatte hör- und sichtbar mit ihrer Stimme, mit ihren Einsätzen und mit ihren Nerven zu kämpfen. Die vokale entscheidende Arbeit an "I Won't Break" hatte ohnehin der dreiköpfige Chor zu leisten, und er tat dies auch. Es war, bei aller Sympathie für die im Rollstuhl sitzende Sängerin, ein erbarmungslos mittelmäßiges Lied.
Russland darf nicht klagen: Julia Samoylova hatte versprochen bekommen, dass sie beim diesjährigen ESC mitmachen darf - sie war im vergangenen Jahr für Kiew ja ohnehin nur nominiert worden, weil sie nicht in die Ukraine gelassen werden würde. Und man tat dies nicht: Samoylova war auf der von Russland besetzten und zur Ukraine gehörenden Krim nach der Okkupation aufgetreten - ihr fehlten die Visumvoraussetzungen. Am Donnerstagabend wirkte ihre Performance bemitleidenswert und einfach nicht gut.
Starkes Finale
Ein prominenter Russe bleibt jedoch im Rennen: Philipp Kirkorov ist der Macher, Texter und Komponist des moldauischen Acts. Der Mann, der 1995 für Russland an den ESC-Start ging und keinen Erfolg hatte, repräsentiert sozusagen als Letzter dieses einst erfolgreiche ESC-Land.
Das Finale am Samstag wird eines der stärksten der vergangenen Jahre. Der deutsche Kandidat Michael Schulte ist an den internationalen Wettbörsen inzwischen auf Rang sieben.